Sonntag, 1. Juli 2012

Semai und der Fischer


Im Morgengrauen ist Semai in der kleinen Bucht, die ihnen seit jeher als Hafen dient, angekommen. Sie ist die ganze Nacht gelaufen und hat sich nach den Sternen gerichtet, die ihr währenddessen aufmunternde Lieder zugeflüstert haben. Nun hebt sich das Schwarz der Nacht und weicht einem sanften Grau, das dem sich ankündigenden Tag ganz langsam und doch stetig die Tür zu öffnen beginnt. Ein einzelner Vogel kreist über ihr, er hat seine Beute noch nicht erwischt.

Semai ist nach dem langen Lauf, durch das harte und steinige Brachland erschöpft, kühl und feucht kleben ihre langen silbrigen Haare an ihrem Hals, ihr Puls klopft und der erkaltete Schweiß dringt in die Poren der wettergegerbten Haut. Ihr goldenes Armband hat sie soweit den Arm heraufgeschoben, dass er einen Platz gefunden hat und nicht mehr herunterrutscht. Der Lederbeutel hängt an ihrem Gürtel und sie fühlt den gewichtigen Inhalt.

Seit langer Zeit wusste sie, dass der Tag kommen würde, an dem sie sich aufzumachen hätte, um den Fischer zu erwarten und ihm das geheimnisvolle Ledersäckchen, das ihr anvertraut worden war, zu überbringen. Sternenstaub aus dem Strom der Zeit lag darin – der Weise aus dem Osten hatte ihn gebracht und dabei unverständliche Worte gesprochen. Auch Semai kannte die Bedeutung des Inhalts nicht. Sie wusste aber, dass sie ihn mit dem Fischer würde zu entschlüsseln haben.

Semai setzt sich erschöpft auf die Steine nieder. Vor Anstrengung und sorgenvoller Erwartung laufen ihr ein paar silberne Tränen die Wangen herunter. Sie zittert und lässt ihren Blick über das große Wasser gleiten. Still und noch trüb liegt es vor ihr. Am Horizont, dort wo Zukunft und Vergangenheit aufeinandertreffen, beginnt der Tag die Nacht zu besiegen. Es würde wieder ein gleißend heißer Tag werden. Soweit ihr Auge reicht, kann sie noch nichts auf dem Wasser entdecken.

Hier will Semai auf den Fischer warten. Ob er die Zeichen verstanden hatte und kommen würde? Obwohl sie schon eine alte Frau war, nannte man sie das Zukunfts-Kind. Sie legt sich auf den harten Boden unter den Baum, den sie so gut kannte, und schlief sanft ein. Das Ledersäckchen in ihrer Hand, die andere Hand auf ihrem Herzen und wartete auf den jungen Fischer, der auf seiner ersten Fahrt war und aus der fernen Vergangenheit kam.

Ein Sturm tobte. Die Mächte des Himmels waren uneins und rangen eine Nacht lang miteinander, denn die Menschen begannen sich in die Weltgeschicke einzumischen. Der Junge, der mit seinem kleinen Ruderboot schon Jahre unterwegs war und den Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft suchte, geriet gerade in diesen Sturm, der ihn davon abhielt, sich in den Tiefen des Seins zu bewegen, sondern daran mahnte, mit seinem Boot geschickt durch den hohen Wellengang zu gleiten, damit es nicht unterginge.

Fast schien es ihm, als könnte er nicht finden, was er suchte, denn er war schon lange unterwegs und wusste nicht, wo sich die himmlischen Orte auf der Erde widerspiegeln und wie er ihrer habhaft werden könne. Seine weichen Füße steckten in Lederschuhen, die sich nun gegen den Rand des kleinen Gefährts, das ihm so lange Heimat war, stützten, damit er nicht das Gleichgewicht verlöre. Als er vor Erschöpfung die Augen schloss sah er sie, wie sie damals, am heimatlichen Feuer stand und Wasser kochte.

Kraftlos und fast bewusstlos sank er auf den Boden des kleinen Ruderboots und überlies sich den Naturgewalten. Den Ruf hörte er, musste es aber den göttlichen Mächten überlassen, ob sie sein Boot durch den Sturm in die Richtung des kleinen Hafens lenken würden. Er wusste es, Semai würde ihn erwarten und mit ihm zusammen den Saum der Zeit, der zwischen Leben und Tod webt, erkunden…

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