Freitag, 18. Mai 2012

Geschenke. Wenn Geld und Hände gereicht werden


Es war kurz vor meinem 37. Geburtstag. Als Biographieberaterin wusste ich wohl, wie sich ein Mondknoten in seiner Variabilität beschreiben lässt. Das hatte ich theoretisch gelernt und so manches Gespräch hatte sich darum gerankt. Ich hatte also eine Vorstellung davon, wie mögliche Szenarien einer heftigen Umbruchzeit aussehen, welche Verunsicherungen und Fragen dazugehören können. Und ich wusste, wie einfach sich dieses emotionale Chaos von außen beschreiben lässt. Besonders im Nachhinein, oder, wenn man eben nicht beteiligt ist…

Mondknoten sind sowohl Geschenke als auch Grausamkeiten. Heute ist es an mir, davon zu erzählen, wohin mich mein zweiter Mondknoten nach allen Verwirrungen geführt hat und wie dankbar ich heute dafür bin.

Damals habe ich das alles nicht so deutlich gesehen. Zu viele diffuse Fragen wirbelten in mir durcheinander. Es war unglaublich viel geschehen, ich war händeringend damit beschäftigt, meinen Alltag irgendwie zu bewältigen. Meine Aktivitäten in der Elias-Initiativgemeinschaft, bei Adventura und im Berghaus waren zum Erliegen gekommen. Ich kämpfte damit, mir beruflich eine neue Stellung zu erringen. NALM bot sich an - ich konnte in der Erwachsenenbildung fortfahren und tat das auch mit halber Kraft.

Denn, die sozialen Fragen waren auch dort bedrängend und ich merkte, dass ich mich fragte, ob ich meine Kräfte wirklich dafür einsetzen wollte. Ging es um all diese Streitigkeiten? Sollte ich so weiter machen? Seminare organisieren? Wer, mit wem - und vor allem, mit wem nicht? - wo, wie, mit wie vielen Teilnehmern… all die Fragen, die jeder freiberuflich Tätige kennt. Und das alles auf einem finanziell schwankenden Boden. Das anthroposophische Umfeld bietet in dieser Hinsicht ja eine großartige Demutsübung an.

Für meine eigene Identität brauchte ich damals neue Akzente, ich musste mich orientieren. Wollte einen Schritt aus der Welt zurücktreten. Zu mir kommen. Mich wieder finden. Lernen. Mich vertiefen. Etwas Eigenes zu meiner Sache machen. Und trotzdem: mit allem weitergehen. Ich wollte hören, was die Welt mir zuraunt und in mir nachspüren, was ich antworten könnte. Aber ich wusste nicht, wir ich aus dem mich umfangenden Netz von scheinbaren Einbahnstraßen heraus kommen sollte.

Ein richtiges Studium an einer Universität hatte ich mir schon immer gewünscht. Aber die Kinder kamen zu früh. Danach all die Verpflichtungen, die finanziellen Notwendigkeiten…. Wie sollte ich das in meinem Alter realisieren?

Und dann kam ich zu einem Kollegen-Treffen nach Basel. Und ich zeigte mich in meiner Not. Dies war der entscheidende Moment, der im Nachhinein eine Vergoldung verdient. Ich weiß noch, dass es zu Hause chaotisch war und nicht geklärt war, wie die Kinder betreut werden. Aber ich wusste: ich will zu diesem Treffen fahren. Und ich fuhr. Mit dem alten, ächzenden roten Passat.

Im Kreis begannen die Erzählungen. Jeder berichtete von sich. Was war, was ist, und was werden soll. Ich weiß noch, dass ich sehr deutlich artikulierte, dass ich gerne studieren möchte. Und dass das aber irgendwie nicht geht, finanziell unmöglich ist. Ich war schon dabei, mich innerlich damit abzufinden - einzuknicken. Und dann kam ein Satz von dir: „Sophie, was du willst ist wichtig. Ich verstehe dich. Und ich unterstütze dich. Ich gebe dir jeden Monat einen finanziellen Beitrag. Würde dir das helfen?“

Ich hatte das Gefühl zu träumen. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich im gleißenden Licht der Wirklichkeit stehe. Es ist kein Traum was ich will, sondern Wirklichkeit. Und hier reicht mir jemand die Hand. Du. Es gab einen Moment, in dem sich der Himmel geöffnet hat. Und ich sagte: „Ja. Das hilft mir. Ich mache das. Ich studiere in Tübingen.“

Keine zwei Wochen später war ich an der Universität Tübingen immatrikuliert. Germanistik und Geschichte. Mit einem Abiturszeugnis geht das ja. Es war zwar schlecht, aber danach krähte kein Hahn. Überhaupt krähte kein Hahn. Ich realisierte, dass ich wirklich tun konnte, was ich wollte – wenn ich es nur tat. Und alles fügte sich. Ich bekam noch weiteres Geld geschenkt und dazu gab einen Kreis von Menschen, die mich – auch immateriell – unterstützten, begleiteten, mir bei meinem abenteuerlichen Unterfangen zur Seite standen.

Ich begann zu studieren. Fast auf den Tag genau an meinem zweiten Mondknoten. Ging in die Uni und wurde angesprochen, ob ich Frau Doktor soundso wäre… Naja. Das war schon ein seltsames Gefühl. All die jungen Menschen, die Anonymität und die unglaubliche Gelehrsamkeit. So viele Fremdwörter, Namen, Daten - ich hatte das Gefühl gar nichts zu wissen… aber ich ging einen Weg – meinen Weg.

Ich hörte zu, sah hin, staunte und klinkte mich ein. Im ersten Semester stand die Lyrik im Vordergrund. Ich begann einen einsamen Weg, auf dem mich viele, viele Bücher begleiteten, die mir zu Freunden wurden. Unglaubliche Schätze lagen da verborgen. Ja, menschlich waren die fünf Jahre an der Uni speziell.

Was geboten wurde war Fachkompetenz. Da eröffneten sich mir Welten: die großen literarischen Protagonisten zeigten sich in allen Varianten. Die Helden, die Verlierer, die Liebenden, die Kämpfenden - die literarische Welt bot das ganze Spektrum. Und ich habe all das aufgesogen. Habe gelesen und gelesen. Und zu schreiben begonnen. Wie viele Exposees, Essays, Exzerpte, Klausuren, Abhandlungen oder Hausarbeiten ich verfasst habe weiß ich nicht. Prüfungen musste ich machen, Fragen beantworten, mich präsentieren und beweisen. Auch reden habe ich gelernt.

Das Studium der Erwachsenenbildung, welches ich zugunsten der Geschichte im zweiten Semester begann, bot in dieser Hinsicht einiges. Hier ging es um Konfliktlösung, Moderation, Kommunikation, Beratung, Seminarplanung und vieles andere mehr. Ich habe das Studium sehr erfolgreich abgeschlossen. Um vieles reicher: Erfahrungen, Wissen, einen Standpunkt und einen Titel und, nicht zu vergessen: einen Zettel auf dem das alles verbrieft ist. Damals, mit 42 Jahren, kam ich zurück „in die Welt“ - wohin genau, dass wusste ich nicht unmittelbar.

Gekrönt wurde das Studium, das ohne das großzügige und freie und lebenswichtige Geldgeschenk, das ich Monat für Monat erhielt, nicht hätte stattfinden können, durch die Publizierung meiner Magisterarbeit. Ich habe über den „Roten Ritter“ von Adolf Muschg geschrieben. Das Buch heißt: „Mitspieler werden. Parzivâls Weg - vom Mittelalter in die Postmoderne.“ und handelt von Identitätsentfaltung in einem Beziehungsgeflecht. Gerade von meinem eigenen Weg also, den ich, ohne die Aufmerksamkeit und Freizügigkeit meines Schicksalsnetzwerkes, nicht hätte gehen können.

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