In diesen Michaelitagen strahlt die Sonne über Deutschland. Es ist warm und golden – die Natur lädt ein, sie schenkt Fülle, Wärme und einen blauen Himmel. Sind diese Tage als Gnadenfrist vor dem Winter zu verstehen – vor Kälte, Dunkelheit, Nässe und Rückzug? Der Herbst hat begonnen, wir streben schon längst der dunkleren Jahreszeit, dem Rückzug und der Einkehr entgegen – der Jahreslauf ist in der Mitte zwischen dem längsten Tag und der längsten Nacht angekommen; der Übergang von außen nach innen vollzieht sich Tag für Tag.
Während sich die Natur in diesen Tagen noch in ihrer Fülle zeigt und überquillt, es wird geerntet und die Gabentische werden reich geschmückt, scheint es, dass die Menschen sich schon der nahenden dunklen Jahreszeit zugewendet haben und in den zu bestehenden Kampf eingetreten sind. Außen und innen fallen auseinander: Zwischenmenschliche Differenzen, Auseinandersetzungen, Missverständnisse, Blockaden, Streit, Enttäuschung, Verunsicherung… Schwächen und Unsicherheiten zeigen sich, Unbeholfenheit und Unwägbarkeiten.
Als ich mit zehn Jahren in die Waldorfschule aufgenommen wurde, war das erste Ereignis zu Schuljahresbeginn das Michaelifest – was ich bis dahin nicht kannte. Ich verstand die Bedeutung des Festes damals auf kognitiver Ebene auch nicht, liebte aber auf Anhieb die michaelischen Lieder, die wir in Hülle und Fülle sangen und musizierten. Auch den Michaelsgeschichten hörte ich aufmerksam und voller Interesse zu. Für uns Kinder gab es Mutproben zu bestehen. Durch dunkle Gänge laufen, Hindernisse überwinden, Unbekanntes erkunden… Gefühl und Wille waren unmittelbar angesprochen.
Was für die Kinder Ende September durch Erwachsene gestaltet werden kann, ein Michaeli-Mutproben-Fest, damit dem Rechnung getragen werden kann, was die Jahreszeiten in ihrer christlichen Bedeutung für die menschliche Entwicklung anbieten, geschieht für Erwachsene auf anderer Ebene. Michael ist zwar dabei, wenn Georg gegen den Drachen kämpft, doch den konkreten Kampf muss Georg tatsächlich alleine ausfechten. Er steht einsam und klein mit dem Schwert da, wenn sich ihm die finstere Macht, die dämonische Drachenkraft nähert.
Wenn ich um mich herum schaue, sehe ich viele kämpfende, ringende, verunsicherte Menschen. Vornehmlich innerlich - aber durchaus auch lautstark und wortreich. Die Michaelizeit fordert heraus und ich fühle mich angehalten darauf zu achten, gegen welche Drachen ich kämpfe, und was nur Scheingebilde sind, die sich vor mir auftürmen.
Ich sehe Anna in der Ferne. Tapfer versucht sie aufrecht zu gehen. Von außen hageln die Anforderungen nur so auf sie ein und sie ist gefragt, ihr Standvermögen souverän zu verteidigen. Innerlich trägt sie eine Wunde, ist sie verletzt, gekränkt – und alles andere als zuversichtlich. Es ist ein Ringen zwischen Tag und Nacht, zwischen Vertrauen und Hoffnungslosigkeit – sie hat mir davon erzählt. Jetzt ist sie unerreichbar, ich ahne nur, dass sie in der Ferne und im Nebel Schritt für Schritt ihr Leben weiter zu beschreiten versucht.
Und ich ahne, womit Malte ringt. Seine Stimme am Telefon war leise, tastend, suchend. Eine Evidenz der Bedeutung der Dinge ist verschwunden – Verwirrung und Überforderung scheinen ihn zu überwältigen. Klarheit, Standvermögen und eine in das Netz der handhabbaren Bedeutungen eingelassene Betrachtungsweise gibt es nicht.
Die Welt im Großen, die Welt im Kleinen – es heißt, dass alles auseinander hervor gehe, ich aus der Welt, die Welt aus mir. Manchmal sind diese Durchdringungen nicht zu verstehen – ja sie avancieren sogar zu polaren Spannungen – und die Schnittpunkte sind weder zu erkennen noch zu ergreifen. Die Evidenz des Beziehungs- und Aufgabennetzes wird unsichtbar und die Sinnhaftigkeit entschwindet dem menschlichen Bewusstsein. Jeder stapft dann in seinem Schritt vor sich hin, ohne Wahrnehmung des Anderen.
Michael prüft den kämpfenden Georg in uns und erfragt die innere Souveränität jedes Einzelnen, er will aus der Schwäche heraus die Stärke entstehen lassen, die noch verborgen und gefangen liegt. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine kräftige Michaelizeit, in der jeder an seine schlummernden Kräfte anknüpfen kann und zeigt, was in ihm steckt – auch wenn er sich schwach fühlt -, auf das wir voller Zuversicht der dunkleren Jahreszeit entgegen gehen können und es in einigen Monaten Weihnachten werden kann.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Mit Engemi in meinen Garten heute Nachmitag sind wir genau deinen Weg gegangen. Wir haben uns gefragt ob du auch bei uns war oder ob wir bei dir waren wenn du geschrieben hast ... Zeit hat manchmal eine andere Logik !
AntwortenLöschenJosiane