Anna schaut auf den Boden. Dann hebt sie langsam ihren Kopf und schaut mich an. Sie sagt leise: Ich habe ein Buch gelesen. Schon vor einem Jahr. Und jetzt noch einmal. Das gleiche Buch. Es heißt: Kriegsenkel. Und es berührt und verstört mich gleichermaßen. Ich kann die Bedeutung noch nicht wirklich fassen. Es handelt über mich. Irgendwie. Ich befinde mich in einem Zustand der Verwirrung, des Berührtseins und der Nachdenklichkeit. Ihr Blick schweift in die Ferne.
Ja natürlich, ich kann etwas über den Inhalt des Buches sagen, sachlich ist das ganz einfach. Anna richtet sich auf, konzentriert sich, und spricht gefasst: Das Buch handelt über eine Generation in Deutschland, die zwischen 1960 und 1970 geboren wurde und deren Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder waren. Die Elterngeneration nennt die Autorin „Kriegskinder“ und die Kindergeneration, über die das Buch handelt, „Kriegsenkel“. Übertragen lassen sich die dargestellten Phänomene auf jedes Land und jede Zeit – Grundlage ist die Konstellation.
Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass es nicht nur nicht aufgearbeitete traumatische Erlebnisse von Kriegsteilnehmern in jeder Altersklasse gibt, sondern, dass diese oft verschwiegenen, vergessenen, banalisierten Kriegs-, Flüchtlings- und Angst-Erlebnisse gerade von Kindern, eine unbewusste Auswirkung auch auf die folgenden Generationen haben. In Fachkreisen… Ich unterbreche Anna und erinnere sie daran, dass ich gerne auf sie zurückkommen würde, wissen möchte, wie es ihr dabei geht. Anna schluckt. Das sichere Terrain, auf das sie durch die Inhaltsangabe gelangt war, soll sie also wieder verlassen… Ihr Blick verschwindet im Nichts.
Sie schaut mich mit einem fremden Blick an und erläutert leise. Meine Eltern wurden beide im Krieg geboren. Sie sind beide, als sie noch sehr klein waren, vertrieben worden, aus verschiedenen Richtungen. Sie mussten flüchten und ihr Zuhause, ihre Heimat zurücklassen. Beide Väter waren im Krieg, die Mütter haben sich jeweils in die Flüchtlingsströme eingereiht und um ihr Überleben gekämpft – was sie auch irgendwie bis in den Westen Deutschlands geschafft haben. Was sich dabei aber alles zugetragen hat, was meine Großmütter erlebt haben, das weiß ich kaum – außer ein paar vagen Andeutungen. Ihre Männer jedenfalls starben innerhalb der ersten zehn Nachkriegsjahre. Meine Eltern lernten sich zu Beginn der 60er Jahre im Studium kennen. Scheinbar unbeschadet. Und sie wollten alles anders machen.
Anna windet sich, sie ist deutlich verunsichert. (Was irritiert sie so?) Sie schaut an mir vorbei und flüstert. Ich bin in Friedenszeiten aufgewachsen. Ja, ich hatte alles, was ich brauchte. Bildung, ein Zuhause, Reisen, Kultur… Man strebte der Zukunft entgegen. Es steht mir nicht zu, zu klagen – das wäre unfair – ich hatte es doch gut. Trotzdem ist da ein Erbe zu verwalten, dem ich jetzt näher komme.
Wenn ich meine Eltern nach ihrer Kindheit fragte, dann kamen immer souveräne Antworten: dass sich ihre Erlebnisse nicht mit meiner Kindheit vergleichen ließen… dass es ein Abenteuer gewesen sei… dass es eben so war, wie es war… dass man nach vorne schauen wolle und ja jetzt alles anders sei… und nichts weiter. Bei diesen Worten schwang immer eine gewisse Härte mit, eine Distanz und gleichzeitig eine sanfte und weite Verlorenheit.
Ich verstehe: Vergangenheit und Zukunft sollten deutlich voneinander getrennt werden. Sie sollten nicht auseinander hervor gehen. Und die Gegenwart präsentierte sich als Insel, die von einem unbekannten Meer umschlossen wurde.
Anna fährt fort: Wenn ich auf mich schaue, darauf, dass „ich“ mich immer als Fremde fühle - egal wo ich bin! - obgleich ich gut sozialisiert und ausgebildet wurde – also nicht unter Minderwertigkeit leide – werde ich ganz schwach. Mein Selbstbewusstsein ist von meiner Grundstruktur her gut ausgebildet und kaum jemand kann nachvollziehen, dass ich mich oft so unbeholfen fühle. Immer das Gefühl habe, dass ich durchhalten müsse. Dass die Welt nicht auf festen Füssen stehe, sondern tagtäglich umfallen könne… Dass es „vorübergehende Lösungen“ seien, in denen wir uns bewegen, dass es keine Beständigkeit, keine Sicherheit, kein Zuhause gibt. Sondern, dass das Leben ein Überlebenskampf ohne Festpunkt ist.
Ich schaue Anna mit neuen Augen an, diese kleine Frau hat doch schon so viel in ihrem Leben geschafft – und sie ringt mit solch einer Lebensunsicherheit… Das hätte ich nie gedacht. Und, dass ihr Grundlebensgefühl durch ein unbewusstes Kriegstrauma ihrer Eltern, die in diesem Sinne nie eine Kindheit hatten und in eine durchgeschüttelte Welt mit Gefahren und Unsicherheiten geboren wurden, gespeist wird, akzeptiere ich als Möglichkeit sofort.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Ich habe meiner Tochter ein Buch geschenkt, welches ich dann selbst zuerst gelesen habe: eine in der Öffentlichkeit stehende Frau, jüdischen Glaubens, erzählt, sehr witzig übrigens, über ihre Biografie unter dem besonderen Blickwinkel Kind traumatisierter Eltern zu sein.
AntwortenLöschenDass ich als Kind eines Vaters mit jüdischer Abstammung sein Trauma immer mitempfunden habe, obwohl es so gut wie nie Thema war, war mir mir schon lange bewußt und in mir spürbar,
- aber dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, welches wohl alle, zumindest viele der Kinder von Traumata betroffenen Eltern haben, war mir neuer Aspekt.
Das ist erstaunlich, denn ich hätte es denkerisch ja jederzeit erkennen können.
Nun, da ich es denken kann, kann ich mich einreihen in eine Art größeres Geschehen. Das nimmt den Schmerz nicht, aber für mich lindert es ihn. Ich kann leichter Abstand nehmen.
Und obwohl meine Eltern nicht vertrieben wurden, so kenne ich das von Anna beschriebene Gefühl,- mir stiegen die Tränen in die Augen -, mich nie so wirklich zugehörig gefühlt zu haben, wo auch immer. Ausgenommen meine Kinder, und mein Vater.
Bis ca. vor ein, zwei Jahren. Seither hat es sich verändert.
Mir scheint es ein Thema zu sein, welches sich lohnt bewußt und wach, zugleich liebevoll mit sich selbst, vor allem im Hinblick auf das selbstgewesene Kind, dass ja immer noch weiter in mir anwesend ist, wahrzunehmen und zu be-achten.
Schön, dass es auch hier zu finden ist.
SST
PS Anna, bist Du die Anna, die hier auch zu den Weihnachtsfragen geschrieben hat?
Gerne würde ich auch außerhalb dieses Ortes mit Dir Kontakt aufnehmen. Wie kann das geschehen?
Liebe/lieber SST,
AntwortenLöschengerne kannst du mir eine Mail schreiben (sophie.pannitschka[@]gmx.de) dann leite ich dich zu Anna.
Herzlich
Sophie Pannitschka
Wo sind Sie, Sophie?
AntwortenLöschenHerzlichen Gruß
Maria
Liebe Maria,
AntwortenLöschendanke für die Nachfrage, ich bin zurzeit ein wenig kraftlos und untergetaucht - hoffe aber, bald wieder aufzutauchen und melde mich dann auf meinem Weblog zurück.
Herzlich
Sophie Pannitschka
Ach je jetzt weiss ich worauf ich zurückkommen muss in meinem Leben. Irgenswann wird es so weit sein......
AntwortenLöschen" und sie ringt mit solch einer Lebensunsicherheit" - und wer tut das nicht? Schlafen oder Ringen scheinen doch die Optionen zu sein. Von aussen sieht es immer viel geordneter aus, besonders bei älteren. Vi
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