Samstag, 18. Juni 2011

In Bewegung. Innen und außen

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Ich sitze am Steuer des Autos und fahre eine gerade Straße entlang. Es sind kaum andere Autos unterwegs, mein Blick ist auf die Straße gerichtet. Fokussiert auf meine Straßenseite, rechts wird er von einer weißen Linie begrenzt, links von weißen Streifen, die die Mitte der Straße markieren. Auf beiden Seiten der Straße ist es grün. Büsche, Wald und Wiese. Ich blicke immer geradeaus. Weil ich das Auto steuere. Meine Hände liegen auf dem Lenkrad, korrigieren kleine Abweichungen.

Meine Gedanken wandern an den Startpunkt meiner Abreise zurück. Das Haus, der Brunnen, die Menschen – sie bleiben dort, am Ort. Ich bewege mich – still im Auto sitzend – gen Süden, etwa 100 km pro Stunde. Entferne mich immer weiter. Auf meiner geraden Straße taucht plötzlich eine Ampel auf, eine rote Ampel! – kein Gegenverkehr, keine Querstraße, niemand hinter mir. Ich verstehe es nicht, aber ich bremse. Mein rechter Fuß gleitet vom Gaspedal auf die Bremse – ganz sanft, es ist nur eine kleine Bewegung.

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Ich steige in einen Bus. Die Sessel sind groß und bequem. Der Bus fährt erst ab, als ich mich angeschnallt habe – das gehört hier oben im Norden dazu. Der Sitz und ich – wir gehören jetzt zusammen. Ich bin die einzige Passagierin. Lasse mich fahren und die Seele baumeln. Ich schaue aus dem Fenster. Möchte einen Elch sehen. Aber es zeigt sich keiner. Ich verlasse den Ort, der vor Kurzem noch meine Gegenwart war. Nun fahre ich meiner Zukunft entgegen, einer Zukunft, die gleichzeitig meine Vergangenheit in einer gemeinsamen Gegenwart ist.

Ich fahre über Straßen, die ich nicht kenne. Durch eine Gegend, in die mich mein bisheriges Leben noch nicht gebracht hat. Ich weiß nur den Namen der Stadt, an dessen Bahnhof ich gebracht werden möchte. Hoffnungsvoll gestimmt, dass der Busfahrer das gleiche Ziel haben möge. In meiner Tasche klingelt mein Handy. Meine Telefonnummer hat mich gefunden – obwohl ich irgendwo in der Welt bin. Eine vertraute Stimme meldet sich, fragt wo ich sei und wie es mir gehe.

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Wenig später sitze ich im Zug. Lautlos gleitet er über die Schienen, fährt lange Strecken ohne Zwischenhalt. Alle Plätze rings um mich her sind belegt, die Menschen schweigen in einer anderen Sprache. Es liegt eine Ruhe über dem Waggon. Ich schaue auch jetzt aus dem Fenster. Die schnell an mir vorbeifliegende Natur lädt mich zum weiteren Träumen ein. Links das Meer, rechts der Wald. Ich sitze und schaue und träume. Innere Bilder kommen hoch, Stimmungsklänge erheben sich. Halbe Sätze gehen mir durch den Kopf – habe ich sie ausgesprochen? Oder wurden sie von meinem Gegenüber gesagt? Oder habe ich sie nur gedacht?

In der inneren Welt können schnelle Wechsel stattfinden. Die Vergangenheit verbindet sich mit der Zukunft, die Gegenwart wird zu einem großen Raum, der alle Zeitströme aufnimmt. In mir treffen Menschen aufeinander, die sich nicht kennen, sich nie begegnet sind – ich kann meine Phantasien und Träume mit realen Begebenheiten und Vorhaben einander begegnen lassen. Das Symphonieorchester der inneren Stimmungen wechselt Rhythmus, Lautstärke und Zusammensetzung.

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Ich liege in einem kleinen und engen Stockbett in einem Vierbettzimmer mit drei fremden Frauen. Das Zimmerchen – besser: die Kajüte - hat kein Fenster, das sich öffnen lässt. Die Klimaanlage rauscht vor sich hin. Geld und Handy liegen unter dem Kopfkissen, mein Netbook lehnt neben mir an der Wand. Ich ziehe mich auf engstem Raum zusammen, habe kaum Platz mich umzudrehen. Unter mir schläft eine Engländerin – wir wechseln ein paar Worte miteinander. Die Stimmen der beiden anderen Frauen habe ich nie gehört – obwohl wir eine ganze Nacht gemeinsam in diesem Raum sind.

Immer wieder öffnet und schließt sich die Tür – es klappert, knistert und knirscht – Licht durchströmt die Dunkelheit. Ich döse ein, wache auf, träume – vielleicht schlafe ich zwischendurch. Neben mir im Stockbett bewegt sich jemand, stöhnt plötzlich auf und sagt ein unverständliches Wort. Wovon die anderen wohl träumen? Mit wem teile ich diese Nacht? Woher kommen sie, wohin wollen sie? Wir treffen uns auf dem Schnittpunkt der Nacht – und wissen es nicht. Ich bin die letzte, die um halb sechs in der Frühe die Kajüte verlässt.

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Neben mir sitzt ein dicker, großer, roter Mann. Er nimmt mehr Platz ein, als ihm zusteht. Ich wende mich nach links, zum Gang hin. Aber da kommen ständig die Stewardessen an mir vorbei. Sie schieben den Wagen mit den abgepackten Snacks hin und her. Ich bin im Flugzeug. Kann kaum herausschauen – die Welt unter mir nicht betrachten. Ich schließe die Augen, stelle mir vor, dass wir über das Meer fliegen. Über blaues, glitzerndes Wasser. Ich kenne die Welt von oben.

Auf der anderen Gangseite sitzen Herren in Anzügen. Sie arbeiten an Laptops. Das Stimmengewirr mischt sich mit den lauten Motorengeräuschen – das Knistern von Zeitungen ist dennoch zu hören. Ich nehme mein Buch. „Montauk“. Tauche in die Welt von Max Frisch ein. Ich kenne den Inhalt. Es ist etwa 30 Jahre her. Beim Lesen kommen die alten Stimmungen hoch, die Erwartungen – von damals. Jedes Wort behält den Klang, den es beim ersten Lesen bekam.

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2 Kommentare:

  1. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  2. Hi Sophie
    liebe Grüße, war nett bei Dir komme mal wieder.
    Christoph

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