Ich könnte von dir erzählen. Davon, dass ich dich besucht habe und du mich mit deinen leuchtenden kleinen Augen immer wieder angesehen hast, wenn du mir eine Frage gestellt hast. Manchmal musstest du ein wenig suchen, bevor du das richtige Wort gefunden hattest. Deine Hände wussten es schon und versuchten es dann mit einer Geste zu zeigen. Aber dann fand sich das Wort und die Zusammenhänge wurden klarer. Du hast mir von einem Erlebnis erzählt, das über achtzig Jahre zurückliegt – und das dich bis heute stark beschäftigt. Mich wiederum hat das sehr beeindruckt.
Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass du drei Monate lang mein Leben bereichert hast. Dass wir täglich viele Stunden nebeneinander saßen, zuletzt durch eine Wand getrennt. Wir haben viel geschwiegen und in den Momenten, in denen das Reden erlaubt war, die Themen sorgsam gesucht. Immer wieder hast du mich mit deinem rechten Auge angezwinkert – und bis heute bin ich nicht sicher, ob ich dich gut verstanden habe. Nun werden wir einander vorerst nicht wiedersehen, du reist ab, und wir werden auf geschriebene Worte angewiesen sein. Ob das gelingt?
Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass wir draußen zusammen gesessen und ein Glas Wein miteinander getrunken haben und im Laufe des Gesprächs immer mehr in den Raum des Anderen aufgenommen wurden. Du erzähltest mir von deiner Welt, aus der du gerade für ein paar Stunden ausgestiegen warst. Die klar umrissenen Ereignisse wurden über Worte vermittelt, die sich in unserem Gespräch immer weiter verflüchtigten, bis nur noch die Gegenwart anwesend war, eine eigene Begegnungswelt entstehen konnte, die über die Sprache der Worte hinausgeht.
Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass du mir deine Verletzung gezeigt hast. Dass du mein Verständnis gesucht hast, ja sogar darum gebeten hast, ob ich in dem Konflikt vermitteln könne, da ich dich in die Zusammenhänge ja Einblick hätte. Und du hast mich bittend und verstört angeschaut und ich habe dich neu gesehen. So kannte ich dich nicht. Deine Empörung, ja, aber deine Hilflosigkeit – nein, die kannte ich nicht. Das hat mich berührt und hilflos zugleich gemacht. Das Ziel ist klar, aber wie gelangen wir dort hin?
Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass du mich angerufen hast – was du nicht oft tust. Du hattest ein ereignisreiches Wochenende hinter dir und wolltest mir davon erzählen. Ich war schon müde, ließ mich auf das Gespräch ein und hörte deinem Bericht aufmerksam zu. Du hast Menschen getroffen, von denen du seit fünfzig Jahren nichts gehört hattest, hast alte Orte besucht und bist in deine eigene Vergangenheit eingetaucht. Am Schluss des Gesprächs hast du mich eingeladen, diese Orte einmal gemeinsam zu besuchen – was ich gerne tue.
Oder ich könnte von dir erzählen. Davon, dass wir uns nicht mehr gesprochen haben, seit ich dir gesagt habe, was deine Worte mit mir gemacht haben. Ist es der Alltag, der Trubel, der uns in Bann zieht, oder bist du gekränkt und weißt nicht mehr, wie du mir begegnen sollst? So viele Worte haben wir in den letzten Jahren hin und her geschickt, ob im direkten Gespräch, am Telefon oder über Mail – es werden Gesten zu finden sein, die die Wege wieder bahnen, nachdem es etwas holprig war.
Oder ich könnte von mir erzählen. Davon, dass ich all jene Menschen innerhalb kürzester Zeit getroffen habe, ihnen begegnet bin. Und davon berichten, dass all diese Begegnungen etwas in mir hinterlassen haben, in mir fort wirken. Sie vermischen sich mit Vergangenem, strahlen in der Gegenwart oder leuchten in die Zukunft hinein, in der wieder neue Dinge geschehen, neue Begegnungen stattfinden, sich Wünsche erfüllen und wieder neue Hoffnungen geboren werden. Wem werde ich nächste Woche begegnen?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Es ist ein schönes Gefühl, uns in deinem Text wiederzufinden. Und eine tolle Idee, diesen Text insgesamt auf diese art und Weise zu gestalten. Das gefällt und berührt mich sehr. Wer wohl die anderen alle sind? L.G.E.
AntwortenLöschen