Vor mir streift der Wind sacht über das blaue Wasser. Die glatte Fläche kräuselt sich leicht. Eingerahmt vom Grün der Natur spannt sich der hellblaue Himmel über mich. Es ist still hier. Sehr still. Die erfrischende Kühle des Wassers belebt meine Sinne. Dadurch kehren die unfertigen Gedanken der letzten Tage zurück, unerfüllte Aufgaben fallen mir wieder ein, das Gedankenkarussell beginnt sich zu drehen. Ich schließe die Augen. Wie kann ich den Wind, der so angenehm durch das Blätterwerk der federleichten Birken fährt, durch meinen Kopf wehen und die eckigen, kantigen und spitzen Gedanken mitnehmen lassen?
Menschen gibt es hier oben wenige. Die grüne Landschaft ist von blauen Seen und roten Holzhäuschen durchzogen. Die Geschichten von Astrid Lindgreen werden lebendig – innere Bilder werden außen vorstellbar: Bullerbü. Die Bilder von Carl Larsson zeigen sich in ihrem Ursprung. Anna erinnert sich an Estland – von dort hat sie sehr ähnliche Eindrücke mitgenommen. Die Natur wartet. Und stellt eine stille Frage an den Menschen. Aus welcher Geschichte ist sie entstanden, was war hier einmal los – und worauf wartet all das Grün?
Als Anna gestern in Stockholm gelandet ist, ist sie durch die Altstadt gelaufen und hat die neuen Eindrücke auf sich wirken lassen. Der Flug in den Norden hat sie einen Blick von oben auf das unbekannte Land werfen lassen. Seen. Grüne Wälder. Wiesen. Friedlichkeit. Auch in der Stadt geht es friedlich zu. Aber es ist mehr los, als sie gedacht hat. Hell sind die Menschen, groß und freundlich. So, wie sie das Klischee zeichnet. Der Espresso ist stark, dunkel und dick – und lässt eher an Süditalien denken. Anna taumelt durch die Menschenmenge und lässt sich von einem Schaufenster zum nächsten treiben.
Die Häuser in der Stadt sind groß und hell, Wasser gibt es auch hier viel. Es ist warm und überall laufen oder sitzen Menschen. Keine Hektik, aber die Stadt vibriert. Ein nordisches Beben ist zu spüren. Die Erde rumort. Hier geht der Wille ganz vom Menschen aus. Die Freundlichkeit des Sommers weicht der Kälte und Dunkelheit im Winter. Wille des Menschen und Kraft der Natur ringen miteinander. Immer abwechselnd. Als Anna spät in der Nacht, es ist etwa halb Zwei, an dem Häuschen, hoch oben im Norden, ankommt und aus dem Auto steigt, fliegt ihr ein weißer Schmetterling entgegen. Es sind die Mitsommernächte, die der Nacht die Dunkelheit nehmen und den Tieren den Rhythmus.
Trotz allem leuchtet der Mond dunkel gelb über dem Wald – wie ein Wächter wacht er am Himmel. Die nordische Welt versteckt sich im Sommer in der Nacht nicht, denn der Dunkelheit ist es nicht erlaubt, sich über die Geheimnisse zu legen. Alles bleibt im Dämmrigen. Es ist warm und still.
Anna kommt aus der Stadt. Sie ist Asphalt und Beton gewöhnt, laute Städte und ein Leben voller Kultur. Die stille Natur im Norden ist ihr eher unbekannt. Das Land ist ruhig und friedlich – aber auch sehr genügsam, das Grün harmoniert in sich. Die Landschaft offenbart sich nicht unmittelbar. Sie überdeckt etwas mit ihrer Ruhe Und diese überkommt Anna im Verlauf der Nacht. Sie lässt alles hinter sich. Sie spürt, dass sie ankommt. Als sie erwacht, es ist mitten in der Nacht aber immer noch fast taghell, steigen tiefe Bilder in ihr auf.
Viel Wasser kommt darin vor. Steine. Ein Strand. Schiffe. Dunkelheit und dennoch das Licht des Mondes. Männer und gedämpfte Stimmen. Gefahr in Verzug. Seile. Gefangene. Gold. Schnaubende Pferde. Eine Lichtspur. Die Sprache des Herzens. Verlust.
Als ich erwache ist es taghell. Wie immer. Der Wind weht noch immer durch die Blätter der Birken. Leises Vogelgezwitscher ist zu hören. In der Ferne sehe ich zwei Pferde grasen. Kennen sie die Geschichte des Landes, wissen sie, woher die Reisenden kamen, wohin sie fuhren? Was es mit dem Gold auf sich hatte? Ich bin am See. Und springe wieder ins Wasser. Diesmal um meine Gedanken zu behalten. Um ihnen einen Platz in mir zu geben. Ich lasse mich von der Natur aufnehmen. Für ein paar Tage.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Hilde Domin
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