Freitag, 13. Mai 2011

Lebende und Tote. Über die Vermittlung von Sprache

Ich saß in einem Kreis von Menschen. Zum Teil waren sie mir bekannt und zum Teil waren mir nur ihre Namen geläufig. Sie blickten auf einen Prozess zurück, an dem ich nicht teilgenommen hatte. Ich war ein bisschen träumerisch und schläfrig, glitt ein wenig in meine eigenen Gedanken ab.

Dann sprach eine Französin. Sie sprach perfekt Deutsch, hatte aber einen französischen Akzent. Worüber sie sprach, weiß ich nicht mehr. Ich musste jedenfalls schlagartig an meine verstorbene Freundin Christine Ballivet denken. Durch die Sprache der Französin stand meine Freundin in mir auf und zeigte sich. Ich hörte sie sprechen, sie war im Raum. Es war, als grüße sie mich über den Sprachfluss der fremden Französin.

Christine Ballivet war Französin. Sprach sehr gut Deutsch. Den Klang ihrer Stimme habe ich noch in meinen Ohren. Sie ist vor zweieinhalb Jahren verstorben. Plötzlich. Und das beschäftigt mich immer wieder. Lange hatte ich das Gefühl, dass sie mir noch etwas sagen wollte, dass ich etwas verstehen oder vielleicht sogar tun sollte. Aber ich wusste nicht was. Habe mich nach und nach von dem Gefühl gelöst. Christine ist weg - sie lebt nicht mehr - und sie ist da - sie erscheint immer wieder.

Meine Aufmerksamkeit glitt wieder zu den Menschen im Kreis. Ich versuchte ganz dabei zu sein. Vergaß auch Christine wieder – wandte mich dem zu, was aktuell anstand, hörte zu. In der Pause aber kam jene Französin, die ich nicht kannte, zu mir. Sie wollte mich kennenlernen. Und als erstes berief sie sich darauf, dass wir beide Christine kannten (kennen?) und intensiv mit ihr gearbeitet hatten. Sie hatte meine Texte auf diesem Blog gelesen und war von meinen Worten über die Verstorbene berührt. Da war ich platt.

Es war die Sprache, über die Christine an jenem Abend „lebendig“ wurde – dachte ich zunächst. Aber wie sich zeigte, war es noch mehr. Christine war über die Sprache gekommen, und verband die Französin und mich. Da standen wir nun. Kannten uns gar nicht und waren plötzlich aufeinander bezogen. Christine stand, als physisch „Nicht-Anwesende“, verbindend zwischen uns. Was hat das zu bedeuten?

Es sind unterschiedliche Impulse, die uns mit der entschwundenen Freundin verbunden haben. Wir sind uns nicht begegnet – zu Christines Lebzeiten – haben nie voneinander gehört, wussten nicht, dass wir beide zu Christines Schicksalsnetzwerk dazu gehörten.

Und an dieser Stelle gerate ich sprachlich in Schwierigkeiten. Wie muss ich eigentlich darüber schreiben, in der Vergangenheits- oder in der Gegenwartsform? Beschreibe ich hier einen Prozess, der abgeschlossen und vergangen ist, oder erzähle ich von etwas, was feinstofflich in Bewegung und gegenwärtig ist? Was bedeutet der Tod eines Menschen für die jeweiligen Netzwerke, für das womit derjenige zu Lebzeiten beschäftigt war, seine Aufgaben und Impulse?

Christine hat in ihrem Leben viel getan. Sie ist weite Wege gegangen, auf hohe Berge geklettert. Hat sich unterschiedlichen Impulsen verpflichtet. Diese Impulse müssen nun auf sie verzichten – im klassischen Sinne. Christine ist „gegangen“ – abberufen worden. „Wir“ sind noch hier auf der Erde und machen irgendwie weiter.

Deutlich ist, dass die Toten nicht fort sind. Sie sterben zwar, aber sie sind nicht weg. Als Lebende gilt es die Ohren zu spitzen und die Herzen zu öffnen, damit wir „hören“ welche Klänge aus der geistigen Welt kommen, was uns die Toten zu sagen haben. Der Kreislauf von Leben und Tod macht nur Sinn, wenn wir auch das einbeziehen, was in der geistigen Welt geschieht. Wenn wir ein Gespür dafür bekommen, wie der Einzelne sein vergangenes Leben betrachtet und verarbeitet, und welche neuen Impulse daraus entspringen. Das Geistige ist auf das Physische angewiesen, mittels des Seelischen.

In der geistigen Welt können keine Bücher gelesen werden (siehe Blog vom 3.8.2009 „Das Buch als vertikaler und horizontaler Kulturträger“), aber herzliche Intentionen und Anstrengungen verbinden die Lebenden mit den Toten auf geheimnisvolle und wechselseitige Weise – zum Beispiel über den Sprachakzent. Danke!

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