Sonntag, 21. November 2010

Zwischen Wörtern sitzen. An- und Abwesenheit

Sie lag noch im Bett, als sie aufwachte, was selten geschah. Meistens kam sie erst zu sich, nachdem sie sich auf leisen Sohlen, und immer wieder zögernd, an den Tag herangemacht hatte und in ihrem halbwachen Zustand mindestens eine Stunde keine Wörter zu benutzen brauchte. Als sie also an diesem ungewöhnlichen Morgen in ihrem Bett erwachte, wusste sie sich von Wörtern umringt. Sie fühlte eine gewisse Erwartung.

Welche der Worte würde sie im Laufe des Tages benutzen, für ihre Anliegen einspannen? Wie oft, in welchem Kontext und mit welcher Melodie? Die Worte präsentierten sich vor ihr. Boten sich herausfordernd an. Das eine machte sich lang und groß, ein anderes strahlte Wichtigkeit aus, es blinkte abwechselnd rot und gelb auf. Andere saßen ganz hinten an der Bettkante und drohten fast herunterzufallen.

Sie war überfordert. Hatte noch keine Orientierung über das, was sie von dem Tag erwartete und worauf sie sich zubewegen würde. Was wollten all die Worte von ihr? Punkt und Umkreis blieben noch unscharf. Und mit Schärfe konnte sie nichts anfangen. Heute nicht. Sie ließ ihre Worte im Bett und stand allein und ohne sie auf. Ein leises Murren hörte sie hinter sich, als sie ins Bad verschwand.

Ein Tag ohne Worte. Da hatte sie sich auf etwas eingelassen. Sie stand vor dem Kühlschrank. Und wusste nicht, was sie wollte. Deshalb machte sie sich einen Kaffee. Danach ging sie in den Garten um eine Zigarette zu rauchen. Die Katze saß unter dem Gebüsch und starrte auf eine singende Amsel, oben auf dem Ast des Apfelbaumes – Gott und die Welt schien sie dabei vergessen zu haben. Die Protagonistin dieses Textes spürt eine gewisse Leere. Trotz der Fülle der Natur. Kaffee und Zigarette schlugen ihr auf den Magen – und kein tröstendes Wort ist zur Hand.

Stille umfing sie, als sie an ihrem Schreibtisch saß. Sie las sich den Artikel noch einmal durch, den der Kollege gestern mit wichtigem Blick eingereicht hatte. Sie konnte an seinen Worten nichts finden. Weder das angekündigte „Anrührende“, noch die Offenbarung. Aber sie hatte heute keine Worte zur Verfügung. Und in diesem Moment war ihr auch noch das Bewusstsein darüber verloren gegangen, wo sie sie gelassen hatte. Sie wusste mit dem Text nichts anzufangen und konnte nicht antworten. Also legte sie den Artikel beiseite und ließ ihren PC hochfahren.

Und schon hämmerte der Verlust der Worte auf sie ein. Sie geriet in ein immer wilderes Chaos von Gefühlen und Emotionen. Als sie selbst die Schriftzüge auf ihrem Bildschirm nicht mehr in ein sinnvolles Gefüge bringen konnte, gab sie auf. Ohne Worte zu denken schien nicht möglich zu sein. Außerdem wollte sie einen Blogtext schreiben. Und der bestand bekanntlich aus Worten.

Ein postmoderner Tag ohne Worte war in der Metropole ein verlorener Tag. Und sie realisierte, welche Dummheit sie begangen hatte. Wie hatte sie ihre Worte einfach sitzen lassen können? Möglicherweise tummelten sie sich immer noch in ihrem Bett, oder sie waren herunter gefallen, lagen im Staub unter ihrem Bett… Sie rannte durch ihre Wohnung, die Treppe hinauf und öffnete klopfenden Herzens ihre Schlafzimmertür.

Was sie sah, ließ sie erstarren. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, dass Worte ein unzivilisiertes Eigenleben führen, wenn sie nicht im Dienste eines Menschen stehen, der sie ordnet, vorschickt, zurückhält oder anbietet. Sie nahm sich unmittelbar vor, besser auf ihre Worte zu achten, sie besser zu versorgen. Deshalb setzte sie sich in die Mitte ihres Bettes, in die Mitte ihrer Worte und bat sie, ihr zuzuhören. Und sie schenkte ihren Worten ihre Worte um wieder Worte zur Verfügung zu haben.

1 Kommentar:

  1. Wie du Liebe Sophie, Erlebnisse, Gefühle, Augenblicke, Weite in Wörter uns schenkt ist Grossartig und das schätze ich sehr. Ich bin überzeugt dass es heutzutage sehr wichtig ist es zu teilen. Dass was du erzählt erleben wir ja alle aber wenn jemand es sagt dann wird es bewüsst. Bewusst zu sein ist das nicht das wichtigste?
    Schönen Tag.
    Josiane

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