Sonntag, 7. November 2010

Verspätete Replik. Heimat in einem Grab?

Die Nachricht trifft. Mich. Nicht auf rationaler Ebene. Nein. Verstehen kann ich das alles. Sondern in meinem Herzen. Sie löst einen Schmerz aus. Es ist ein lockeres Mail – so wie sie haufenweise tagtäglich verschickt werden. Das Mail beinhaltet die einfache Nachricht, dass das Grab meiner Großeltern aufgelöst wird. Man mietet ein Grab für zwanzig oder man kauft es für vierzig Jahre - auch wenn ich diese Logik nicht verstehe - und das Grab meiner Großmutter habe nun zwanzig Jahre bestanden. Also laufe der Mietvertrag ab. Den Grabstein könne man abholen. (Und dann? Was mache ich denn um Gottes Willen mit einem Grabstein? Ihn mir in den Garten stellen – ohne das Grab?) Ich bin verwirrt.

Meine Großmutter hat fast neunzig Jahre gelebt, sie ist eine jener Frauen, die das ganze Drama des 20. Jahrhunderts mitgemacht haben. Und sie kam aus Böhmen. (Wer kennt diesen Landstrich?) Sie war Deutsche im heutigen Tschechien. Die Geschichte ist verworren und kompliziert. Das Leben meiner Großmutter begann noch unter der k.u.k. Monarchie. Damals war das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen etwa sechs zu vier. Sie gehörte zur Oberschicht. Und ich nehme an, dass sie bei der Gründung der Tschechischen Republik 1918 zugestimmt hat, dass es darin eine abgeschlossene Republik der Deutschböhmen geben sollte.

Sie war fast vierzig Jahre alt, als im ersten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs ihr erster Sohn geboren wurde. Davor hat sie an der Seite ihres Mannes ein angenehmes großbürgerliches Leben geführt. Selbstverständlich hat sie nicht gearbeitet. Nein, sie hat Tennis gespielt und ist ausgeritten. Ich weiß nicht viel über diese Zeit. In meiner Hochhaussiedlung in der ich aufwuchs sah das Leben anders aus. Aber wenn sie mir von ihrem früheren Leben in meiner Kindheit erzählt hat, was sie nicht oft tat, dann entstand in mir ein fernes-warmes-undeutlich-stimmiges Bild.

Ihr Mann durfte in den ersten Kriegsjahren bleiben, denn er war Direktor eines Elektrizitätswerkes – und das war kriegsrelevant. Mitten im Krieg wurde den beiden ein zweiter Sohn geboren. Wie ich mir die genauen Umstände vorstellen soll, weiß ich eigentlich nicht. Was ich aber weiß ist, dass meine Großmutter am Kriegsende mit ihren beiden Söhnen vertrieben wurde. Sie musste vor den Tschechen fliehen, denn die waren auf die Deutschen nicht mehr gut zu sprechen. Mein Großvater war inhaftiert worden. Nie mehr kehrte die Familie in ihre Heimat zurück.

Wenige Jahre nach dem Krieg starb mein Großvater und meine Großmutter musste mit ihren beiden Jungen, fern von der Heimat, irgendwie durchkommen, ein neues Leben beginnen. Erst fünfzehn Jahre nach der Flucht gab es einen neuen Ort, der sich langsam „Zuhause“ nennen ließ. Wiederum einige Jahre später kam ich auf die Welt und lernte meine Großmutter dort kennen. Sie war eine kleine, zarte Frau. Ich erinnere ihre knochigen, warmen Hände, sehe sie noch vor mir, deren Gelenke im Alter deutlich hervorgetreten waren.

Sie trug Hosen, selten Kleider. Und sie rauchte. Bis ins hohe Alter. Ihre Zigaretten, Lord Extra, legte sie immer in den Kühlschrank. Sie meinte, dass sie dort frischer blieben. In ihrem Wohnzimmer hingen Fotos. Eins von ihrem Mann, meinem Großvater also, und eins von zwei Jungen in Lederhosen, meinem Vater und meinem Onkel. Alle drei Bilder waren mir fremd. Immer wenn ich meine Großmutter besuchte, und das geschah in den Ferien öfters, fuhren wir auch zum Bergfriedhof.

Dort lag ihr Mann begraben, er war mehrere Male umgebettet worden. Mein Großvater also, aber ich kannte ihn nicht. Überhaupt kannte ich damals keine Toten. Ich hatte überhaupt keine Vorstellung davon, dass da mal jemand gewesen sein sollte, der jetzt nicht mehr da war. Ich konnte das denken, aber nicht fühlen. Was ich aber fühlte, das war die Wärme und die Nähe, die meine Großmutter ausstrahlte, wenn wir zum Friedhof fuhren, und das berührte mich. Immer war ich gerne dabei. Wir pflegten das Grab, brachten Blumen.

Als ich erwachsen war und bereits zwei Kinder hatte, starb meine Großmutter. Sie war meine erste richtige Tote. Ich fuhr zu „ihr“, wenige Stunden nach ihrem Tod, und saß an ihrem Bett. Sie war sehr alt geworden. Und lag so friedlich da. Ihren Körper, die irdische Hülle, abgestreift, auf der Erde liegengelassen, und innerlich davon geflogen. Ja, so erlebte ich sie. Der Tod beeindruckte mich und schenkte mir eine große Ruhe. Er war, als Kontrast zu den Geburten meiner Kinder; in mein Leben getreten und erhielt einen würdigen Platz. Anfang und Ende gehören zusammen.

Und wir fuhren zum Bergfriedhof. Wieder einmal. Den Ort kannte ich schon. Und begruben die Asche meiner Großmutter. Und seitdem bin ich viele Male dort gewesen. Es ist ein schöner Friedhof, still und voller ehrwürdig alter Bäume, deren Blätter im sanften Wind zu rascheln beginnen. Lang nach ihrem Tod habe ich in ihrer Stadt studiert, das war schon ein Kindheitstraum gewesen, und jeden Tag fuhr ich an ihrem alten-neuen Zuhause vorbei. Nach meiner letzten Prüfung habe ich eine rote Rose auf ihr Grab gelegt, denn sie war mir in all den Jahren immer nah.

Auch wenn sie selber keine Heimat mehr hatte, zu den sogenannten Vertriebenen gehörte, so hat sie mir doch Heimat gegeben. In ihrem Leben und in ihrem Tod. Ich werde den Ort vermissen, so er denn tatsächlich aufgelöst wird. Kann es denn wahr sein, dass sie jetzt noch einmal gehen muss, aus ihrem Grab, weil ein „Mietvertrag“ abläuft?


Nachtrag:
Die Familie hat getagt. Das Grab bleibt erhalten. Für die nächsten vierzig Jahre. Bald werde ich wieder einmal zum Bergfriedhof fahren. Um einen Moment Heimat zu spüren. Bei und mit meiner heimatlosen Großmutter, die nun ihre letzte Heimat behalten darf. Darüber freue ich mich sehr.

3 Kommentare:

  1. Es beeindruckt mich immer wieder wie du es schaffst mich, mit deinen geschriebenen Worten, in einen wunderbaren Bann zu ziehen! :)

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  2. Liebe Sophie,
    wieder ein wunderbarer Granatapfel, jeder einzelne Samen eine Wohltat. Wieder danke ich dir von Herzen, dass du deine Granatapfel-Plantage mit uns teilst.
    Herzlichst
    Sonja

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  3. Liebe Sophie
    Heimat in einem Grab? Vielleicht sogar eine Schicksalsgemeinschaft im Grab? Ein Verbundenwerden von Menschen, die teilweise oder gänzlich zeitverschoben gelebt haben? Meinst du die Grabgemeinschaft könnte für die gegangenen Seelen von Bedeutung sein? Für die Hinterbliebenen wohl schon. Jedenfalls für jene, die ein Familiengrab pflegen. Ich habe ganz unterschiedliche Grabbeziehungen.
    Deine Gedanken und Fragen berühren und deine Liebe zur Grossmutter durchwärmt den ganzen Text. Auch meine Grossmutter ist eine mir nahe Tote, auch mich packte unmittelbar nach dem Nalmkurs die Grabthematik. Inspiriert von deinem Text, habe ich versucht meinem Allerseelenerleben ein Wortkleid zu geben.
    Hat mir ganz gut getan.
    Danke und herzliche Grüsse

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