Samstag, 9. Oktober 2010

Liebe Christine, oft denke ich an dich...

... und dann höre ich deine Stimme, dein Lachen. Sehe dein Schmunzeln, dein nachdenkliches Zuhören, deine großen offenen Augen. Ich sehe dich, wie du neben mir am Steuer sitzt, wie wir im Kreis einander gegenüber sitzen oder wie wir in einem kleinen Grüppchen draußen stehen. Sehe, wie du rauchst, wie du einen Espresso trinkst oder ein Eis mit Sahne isst. Mein Blick ist dann rückwärtsgewandt.

Das alles sind Erinnerungen auf der irdischen, der weltlichen Ebene. Begegnungen und Sinneseindrücke die man haben kann, wenn man einen Körper hat, in einen Körper eingesperrt ist, wenn man inkarniert ist. Aber du bist nun schon fast zwei Jahre tot, „lebst“ in der geistigen Welt, hast keinen irdischen Körper mehr. Meine Erinnerungen beziehen sich auf das Hier – auf die irdische Welt. Sie wandeln sich nicht mehr, es kommt nichts Neues hinzu – es war wie es war, ich bewahre sie in meiner Innenwelt.

Was sich aber im Laufe der Zeit ändert ist die Bedeutung meiner Erinnerungen. Oft sind wir ja verschwenderisch mit Erlebnissen, gieren immer nach mehr und mehr, und erfassen die Bedeutung eines Augenblicks oft erst später – oder gar nicht. Wenn es aber plötzlich heißt, „das war es – es kommt nichts mehr dazu“, dann wird das Gesamtpanorama, und wenn es gut geht sogar die Idee des Lebens sichtbar. Vorher wähnten wir uns immer mittendrinn und dachten, dass noch viel geschehen werde…

Zukunft entsteht aus der Vergangenheit. Zukunft hat Vergangenheit. Das besagt auch ein schöner Filmtitel: Die Zukunft braucht ein altes Herz. Das Herz als Sinnbild für Integration des scheinbar Gegensätzlichen, des Unzusammenhängenden, des Zufälligen. Des Unsichtbaren, Geheimen oder Unaussprechlichen. Es war ein Herzinfarkt, der dich sterben ließ, der dir in der geistigen Welt einen neuen Geburtstag verschaffte. So plötzlich, so unerwartet – und doch so „stimmig“, irgendwie evident.

Wir waren uns in den Jahren, in denen wir uns immer wieder begegnet sind, in denen wir zusammen gearbeitet haben nah und fern zugleich. Wir waren sehr verschieden – und vielleicht deshalb so fasziniert voneinander. Einmal habe ich dich in Lyon besucht, habe gesehen, wo und wie du lebst, wo und wie du arbeitest, habe deinen Lebensraum kennengelernt. Und auch du warst einmal bei mir. Damals hatte ich noch kleine Kinder. Meistens aber haben wir uns an anderen Orten getroffen – dort, wo wir zusammen gearbeitet haben.

In meiner Gegenwart tauchst du oftmals unvermittelt auf. Plötzlich bist du da, sehe ich dich. Es sind keine „großen“ Botschaften, die ich erkennen kann, aber Präsenz. Und so versuche ich manchmal durch deine Augen zu schauen. Was würdest du wohl zu diesem oder jenem sagen? Ich war auf deinen Abschied nicht vorbereitet – damals. Und das geht mir irgendwie nach. Gibt es etwas, was ich verpasst habe? Mein Blick ist vorwärts gewandt.

Unser gemeinsames Anliegen, an einer „christlichen Infrastruktur“ oder einer „Kultur des Herzens“ oder einem „neuen Jerusalem“ mit zu bauen, geht seine Wege. Hier auf der sichtbaren, fühlbaren, erlebbaren Erde. Schon zu deinen Lebzeiten hatten wir uns vereinzelt, war die Gemeinsamkeit nicht mehr ausnahmslos fruchtbar. Und so steht es noch, die meisten der gemeinsamen Freunde, Mitarbeiter und Weggefährten sind ferne Freunde, nur noch erahnbare Mitarbeiter und selten sichtbare Weggefährten - jeder arbeitet an seinem Ort, mit seinen Möglichkeiten.

Dein Stern aber, leuchtet aus der geistigen Welt immer wieder zu mir herunter – und dafür bin ich sehr, sehr dankbar. Wie schön, dass du hier auf Erden warst, Christine

3 Kommentare:

  1. RAINER MARIA RILKE:

    Ich habe Tote, und ich ließ sie hin/ und war erstaunt, sie so getrost zu sehn,/ so rasch zuhaus im Totsein, so gerecht,/ so anders als ihr Ruf. Nur du, du kehrst/ zurück; du streifst mich, du gehst um, du willst/ an etwas stoßen, daß es klinkt von dir/ und dich verrät. (...) Was bittest du? ...

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  2. Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.

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  3. Oh ja, das Requiem für Paula Modersohn Becker in Worpswede... SEHR SCHÖN!

    Der Tod schneidet - trotz aller Feinstofflichkeit.
    Und Erinnerung ist etwas anderes als eine echte Begegnung...

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