Heute vor siebzig Jahren hat Walter Benjamin in Portbou, an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien, seinem Leben mit Morphium (das er zuvor noch mit Arthur Koestler in einem Internierungslager in Südfrankreich geteilt hatte, damit jeder für den Notfall genug hätte), ein Ende gemacht. (Koestler setzte es nicht ein.) Obwohl Benjamin ein Durchreisevisum für Spanien hatte, um in die USA auszureisen, ließen ihn die Grenzer in den Pyrenäen nicht passieren, da er ein „Staatenloser“ war. Um als Jude den Nazis nicht ausgeliefert zu werden, wählte er am 26.9.1940 den Weg in den Himmel – dorthin, woher sein Engelbild „Angelus novus“ von Paul Klee auf die Erde gestürzt war, als er auf die Geschichte des Landes blickte – und das Benjamin zeitlebens begleitete.
Walter Benjamin ist nur achtundvierzig Jahre alt geworden. Seine Lebensorte waren vornehmlich Berlin – dort ist er 1892 geboren worden –, die Schweiz – dort hat er die Kriegsjahre des ersten Weltkriegs verbracht und studiert – und Paris – das ihm ab den 30er Jahren Exil bot. Von Paris war er fasziniert. Bis zuletzt hat er am „Passagenwerk“ geschrieben, an einer "Urgeschichte der Moderne". Benjamin war ein eigensinniger Intellektueller zwischen den Weltkriegen, bewegte sich zwischen Tradition und Moderne, ganz dem deutschen Geist verschrieben. Erst die Postmoderne hat seine Werke entdeckt. Es waren die Freunde, die seine Manuskripte veröffentlichten.
Seitdem ist es zu einer wahren Flut an Literatur von und über ihn gekommen. Das Gesamtwerk wurde bei Suhrkamp publiziert, Benjamin selber hat zu Lebzeiten nur ganz wenig veröffentlichen können. Die Freunde von damals, Gershom Scholem, Theodor Adorno, Gretel Karplus, Bert Brecht, Hannah Arend, haben seine Manuskripte, die er ihnen zwecks Kommentierung zusandte, verwahrt und dann der Öffentlichkeit übergeben. Sie waren sein Archiv, denn er hatte viele Jahre lang kein Zuhause mehr. Er war ein Reisender, ein Suchender, ein Mann, der überleben wollte und einen Ort dafür brauchte. Benjamin war mit einer Aktentasche unterwegs.
David Wittenberg hat einen Film gedreht: „Geschichten einer Freundschaft. Walter Benjamin zum Gedächtnis.“ Er läuft zurzeit auf arte (http://videos.arte.tv/de/videos/geschichten_der_freundschaft-3423058.html). Dieser Film zeigt auf hohem Niveau das Dilemma, in dem Benjamin steckte. Er beschwört die Zeit von damals herauf. Mit eindringlichen Bildern aus Berlin, der Schweiz und Paris. Oft sind es stille Bilder, fotografische Filmaufnahmen, die mich als Zuschauerin durch ihre Stille bewegen und aufwühlen. In einem Spannungsverhältnis dazu werden bewegte Bilder gezeigt, fahrende Züge, Autos oder Schiffe – und sie machen still, betroffen. Sie machen die Stille erfahrbar, die eine Frage braucht, und die Bewegung, die ins Unausweichliche führt.
Bilder von damals wechseln sich mit Bildern von heute ab. Eine Zeitreise durch Orte mit ungewöhnlichen Perspektiven. Die unsichtbare Erzählstimme kommentiert, zitiert, stellt dar und mahnt mit leisen Worten. Ein anspruchsvoller Film, der an einen Mann erinnert, der heute bekannter ist als je zuvor. Der Film macht aufs Neue betroffen, weil die Zeitereignisse überhand nehmen und das Individuelle keine Berechtigung mehr zu haben scheint.
Walter Benjamin hatte viele Freunde, er war zu Lebzeiten nicht berühmt – das geschah erst posthum – aber bekannt, er war ein Mann des intellektuellen Lebens, der Auseinandersetzung. Er war ein Mann seiner Zeit, der sich einen Weg zwischen Vergangenheit und Zukunft zu bahnen versuchte. Und dabei, auch er, ein Gefangener. Er hat sich öffentlich eingebracht, solange das ging, und ist denkerisch immer eigene Wege gegangen. Benjamin war jemand, der die Dinge sich hat aussprechen lassen, sie neu durchdacht hat, ihnen zu neuem Licht verholfen hat.
Sein Freund Gershom Scholem ist schon in den zwanziger Jahren nach Palästina ausgewandert, und hat Benjamin wieder und wieder nicht nur eingeladen, sondern auch dringend gebeten zu kommen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber Benjamin kam nicht, er war in diesen Dingen selten unbeholfen und die Tragödie nahm ihren Lauf. Benjamins Ort war Paris – und dort durfte er nicht bleiben.
Die Stellung, die seine intellektuelle Leistung ihm auf literarischer Ebene gebührte, wurde ihm zu Lebzeiten versagt, seine Habilitationsschrift abgelehnt. Was nützt einem Menschen der große Nachruhm, wenn er sich aus Angst vor seinen Zeitgenossen das Leben nehmen „muss“ um nicht von ihnen umgebracht zu werden. Sein Grab in Portbou verschwand nach einigen Jahren, der Autor drohte in das Meer der Unbekannten zu versinken. Heute aber ist der Ort zu einer intellektuellen Pilgerstätte geworden, seine Werke sind weithin bekannt.
Damals, in den Kriegswirren, waren es die persönlichen Freunde, die ihn und seine Schriften wie in einem Archiv in sich trugen. Das Schicksalsnetzwerk hat nach seinem tragischen Tod einen Toten mit seiner Aura zu neuem Leben erweckt. Zumindest auf literarischer Ebene. Durch Anteilnahme, Freundschaft, Wissen und Achtung. Benjamin ist mit seinen Worten ein Bote aus dem Reich des Vergessens, und ruft dazu auf einander wahrzunehmen. „Das wahre Maß des Lebens ist Erinnerung“ – sagte Benjamin schon, als er in Paris Proust übersetzt hat. Der Film von Wittenberg macht Erinnerung aufs Neue möglich, macht Zukunft nötig.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Danke für die Entdeckungen : Walter Benjamin, der Film, eine andere Welt.
AntwortenLöschenJosiane
25.Sept.
AntwortenLöschenDeine Sprache bricht auf, lässt aufbrechen, dahinter die Kraft der Worte, ein Mehr an Enthüllungen, Hüllen fallen, Gesichter heben sich empor, der Übertritt durch dunkles Gebirge, eigener Schatten, die sich emporheben, kein jungfräuliches Gebirge, Pyrenäisches: Plötzlich und nackt vor sich selber zu stehen. - Ruhe kehrt ein, kein Kommentar, nur Recherche. Auch das ist Kunst, Kunstgriff des Schreibens. Groß, mächtig das Wort, sich schenkt. Benjamin auferstanden im Bild.
Liebe Sophie,
AntwortenLöscheneine wunderbare hommage an Walter Benjamin und Einblick in den Film hast du geschrieben. W. B. hätte sich gefreut und ich auch, dass ich mal wieder von ihm höre. Vor allem die Vorstellung vom Boten aus dem Land des Vergessens gefällt mir sehr gut. L.G. von Elfriede.