Samstag, 23. Oktober 2010

Zwischen gestern und morgen. Früchte tragen eine neue Saat in sich

Sie bewegt sich in der Großstadt zielsicher. Heute. Sie fällt nicht auf. Das moderne Leben ist ihr vertraut. Sie kann Geräte bedienen. Auf dem Land ist sie selten. Ihre Füße sind nicht groß, trotzdem geht sie mit festen Schritten der Zukunft entgegen. Erledigt ihre Aufgaben. Die Einsamkeit des postmodernen Menschen nimmt sie wahr. Staunt darüber. Und sie sucht ihren Weg. Geht ihren Weg auf Asphaltstraßen. Während sie sucht und geht. Ohne zu wissen, was sie eigentlich sucht und wohin sie geht. Sie weiß nicht, was sie finden will.

Sie hatte von dem Grubenunglück in Chile gehört. Sie verfolgt das Weltgeschehen durch die Medien. Fernsehen, Zeitungen. Ist einigermaßen auf dem Laufenden. Ist bestürzt über das Gefängnis der Bergleute. Natürlich. Mitten im Berg. Und sie sollen so eine lange Zeit dort unten in der Tiefe ausharren… Eine grauenhafte Vorstellung. Sie denkt nicht speziell daran, vergisst die Männer im Berg. Es ist so viel Trubel um sie her. Sie lebt irgendwie unbewusst damit. Bei all den vielen Schreckensmeldungen, die so kommen. Sie geht ihren Tagesgeschäften nach. Was auch sonst.

In der Nacht VOR der Rettung des ersten Bergmanns hat sie einen eindrücklichen Traum. Ja, so nennt man das. Einen Traum… Sie wusste überhaupt nicht, dass da etwas anstand, denn sie war unterwegs und hatte keine Nachrichten gehört. Sie träumte, dass sie die Bergleute besucht hätte. Sie war unten. In dem Schutzraum. Sah, wie die vielen Männer in Unterhosen auf dem Boden lagen oder saßen. Sprach mit ihnen. Sie sah die Kapsel, die sie wieder ans Tageslicht transportieren soll.

Als sie aufwachte, erinnerte sie sich noch genau. Sieht heute noch das innere Bild vor sich. Sie war bei den Bergleuten. Unten. Im Schutzraum. Dort, wo sie so unendlich viele Tage verbracht haben. Sie setzt sich ins Auto und fährt los. Macht das Radio an. In den 8 Uhr Nachrichten wird mitgeteilt, dass die Rettungsaktion angelaufen sei. Tatsächlich. Heute. Dass die Kumpel gerettet werden sollen.

Und sie realisiert, dass sie das schon weiß. Sie ist gewissermaßen dabei. Viele Tausend Kilometer entfernt. Und es kommen ihr die Tränen. Weil sie plötzlich spürt, was es heißt in einer Gruppe zu sein. Aufeinander angewiesen zu sein. Dazuzugehören. Gemeinsam eine Gruppe zu bilden. Zusammen ein Ziel zu erreichen. Jeder für sich und doch alle zusammen.

Während sie über die Landstraße fährt spürt sie, wie sehr ihr Grundlebensgefühl von einer Gruppe geprägt ist. Spürt vage etwas, was in einem letzten Leben unvollständig geblieben sein muss. Gefühlsmäßig. Nicht zu Ende geführt werden konnte. Aber noch in ihr lebt. In ihrem Rucksack steckt. Und plötzlich bekommen die Ereignisse in Annas Leben eine neue Kontur. Eine andere Farbe. Die postmoderne Einsamkeit bewegt sich nicht um sie herum, sondern steckt in ihr. Die roten Äpfel leuchten noch.

Sie erinnert sich. Vage. Es war kalt und nass. Damals. So wie heute. Und Angst machte sich breit. Damals. Der Morgen schlich sich nur langsam heran und sie wusste nicht, ob sie die Zeit vor- oder zurückdrehen wollte. Sie versuchte sich an den Moment des Eides zu erinnern. Als sie sagte, dass sie den Auftrag annehmen würde. Was immer auch geschähe. Sie war durch und durch davon erfüllt gewesen.

Diese Sicherheit schien nun weit weg zu sein. In den quälenden Morgenstunden des herannahenden Tages. Damals. Ihres letzten Tages. Aber das wusste sie nicht. Der einzige Trost war, dass sie sich auf die anderen würde verlassen können. Jeder hatte den Eid abgelegt. Jeder hatte seine Aufgabe. Jeder würde für den anderen einstehen. Sie würden es schaffen. Gemeinsam.

Die Gruppe hatte ein hohes Ziel. In der zerklüfteten Berglandschaft wurde es langsam hell. Die Schatten der Nacht wichen dem herannahenden Licht. Die leisen Geräusche vorbeihuschender Tiere waren zu vernehmen, es raschelte hier und dort. Aber das machte sie nicht unruhig. Das kannte sie. Sie richtete ihren Blick auf den wilden Apfelbaum, der als Mahnmal gegen den verhangenen Himmel stand. Die vereinzelten roten Äpfel hingen wie Zeichen im kahlen Geäst. Nasse Blätter bewegten sich im Wind. Wie kurz hatte der Baum nur geblüht, damals, als es wärmer wurde, wie schnell war die Pracht vergangen. Kühle lag über dem Bergrücken. Aber die Früchte würden die neue Saat in sich tragen – das wusste sie doch.

Plötzlich ging alles ganz schnell. An verschiedenen Orten flammten die Fackeln auf. Fast zu gleicher Zeit. Das bedeutete Gefahr. Die Aufmerksamkeit war zum bersten gespannt. Spannung lag in der Luft. Gedanken flogen durch den Himmel, vibrierten in der Dämmerung – die Gruppe musste sich von Ort zu Ort verständigen, ohne einen Laut von sich zu geben. Mit Feuerzeichen. Sie weckte die Männer. Blickte zum Horizont und wusste was zu tun war. Jeder schlich in eine andere Richtung. Lautlos. Schnell. Bevor die ersten Sonnenstrahlen den Weg über die Bergspitzen finden würden. Die Unruhe beflügelte sie.

Als sie wieder zu sich kam, sah sie ihren leblosen Körper in der Schlucht liegen. Hingegeben an die glatten Steine. Sie war abgerutscht. Allein. Hatte sich nicht halten können. Die anderen waren noch unterwegs, sie hatten ihren Tod noch nicht bemerkt. Die Geschichte nahm ihren Lauf, war noch nicht zu Ende. Aber davon würde sie nichts mehr erfahren.

Langsam wandte sich ihr Blick von der Erde ab. Wandte sich nach oben. Sie wurde begrüßt und in die himmlischen Sphären aufgenommen. Mehr wusste sie nicht davon. Als sie sich lange Zeit später wieder anschickte, auf die Erde zu kommen, begann sie die anderen zu suchen. Irgendwie. Um den Auftrag zu erfüllen. Irgendwie.

Die Zukunft liegt in der Vergangenheit.

5 Kommentare:

  1. Es gibt Geschichte die sich ganz leise im Herz einfädeln. Ist das die Geschichte oder sind das die Bilder die hinten manchen Wörter sind ?

    Bilder, Wörter, Buchstaben … Ist das den Weg der die Zukunft nutzt um eine neue Geschichte zu ermöglichen ? Ist das warum man Geschichte schreibt ?

    Bis bald Sophie.

    Josiane

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  2. Liebe Sophie
    Ich bin Josianes Freundin und versuch manchmal ihre "Wörter" wie Saat in mich rein zu nehmen; ich hab' mein Deutsch fallen lassen, aber es wird immer besser. Herzlich bedankt for what you wrote us today. I find Josiane's question intriguing, would you like to expand a little more on this?
    I love reading your blogs because they are inspiring and true.
    Thank you
    engemi

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  3. Ja, liebe Josiane und Engemi, ich glaube schon, dass es so ist. Geschichten schleichen sich ein.


    Und wenn sie dann geboren werden kann man unterscheiden: Herzgeschichten,
    Kopfgeschichten oder Fußgeschichten.

    Bei der Kunst des Schreibens entstehen Bilder und Geschichten durch Worte und Buchstaben - in der Malerei entstehen Geschichten aus Bildern...

    Jede Kunst hat ihren Weg, ihre Werkzeuge, ihre Werkstatt.

    Die Zukunft gebiert sich aus der Vergangenheit - und die Transporteure sind wir, die Menschen. Zwischen Licht und Finsternis gestellt, zwischen gestern und morgen hin und her wankend, und dabei das Jetzt manchmal verpassend...

    Leben ist doch spannend, oder?

    Herzlich! Sophie

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  4. Hello again,

    Schön wie du das sagst Sophie, gerade was ich im Moment auch erlebe, full speed.

    Können wir weiter gehen mit Herzgeschichten,
    Kopfgeschichten oder Fußgeschichten.

    Has du Beispiele ?

    Bien amicalement.
    Josiane

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  5. Ja, wir machen weiter mit den Geschichten.
    Die letzte war eine Herzgeschichte. Die davorige eine Kopfgeschichte. Die nächste wird eine Fußgeschichte. Sie ist in meiner Werkstatt, meinem Wort-Atelier schon angekommen und liegt dort auf dem Tisch. Zum Wochenende hin wird sie sich gebären.

    Und du, hast du auch Herz-, Kopf- oder Fußgeschichten? Oder gibt es gar noch mehr Geschichten?

    Herzlich! Sophie

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