Donnerstag, 15. Juli 2010

Schicksal: Wissen, was man wirklich, wirklich will - und kann

Ein Frauenschicksal in Paris um 1900.
Camille Claudel wusste, was sie wollte. Vom ersten Moment an. Sie wurde als Bildhauerin geboren. Sie entdeckte den Ton und die Steine schon in ihrer frühen Kindheit. Es scheint, als ob sie an ihrer Berufung nie gezweifelt hätte. Schwierigkeiten hatte sie „lediglich“ mit ihrer Zeit. Mit ihrer Familie – vornehmlich ihrer Mutter – und dem großen Meister in Paris, mit dem sie sowohl fachlich als auch menschlich eine intensive Nähe verband, die jedoch tragisch zerbrochen ist. Camille Claudel konnte ihrer Berufung nur einige Jahre nachgehen. Die letzten zweiunddreißig (!) Jahre ihres Lebens war sie in einer „Anstalt“ eingesperrt und hat nie wieder Ton berührt.

Welche Umstände haben sie in dieses Schicksal geführt – und wohin führt sie ihr Schicksal beim nächsten Mal?

Ein Männerschicksal in Florenz und Rom um 1500.
Michelangelo war ein ähnliches und doch konträres Schicksal beschieden. Auch er ein (der!) berufene(r) Bildhauer und Maler vom ersten Moment an. Auch er musste gegen den Willen seiner Familie anarbeiten, vornehmlich gegen den Vater, aber es ist ihm gelungen, er hat sich durchgesetzt. Seine Ziele standen ihm immer klar vor Augen. Und dafür ist er eingetreten. Auch wenn er – schon als Meister – in die Zwänge von Päpsten geriet, immerhin hat er gearbeitet. Steine behauen - erschaffen. Ein unglaubliches Werk hinterlassen. Seine Skulpturen und Fresken überstrahlen heute die menschliche Einsamkeit dieses großen Mannes.

Was ist dieser Inkarnation vorausgegangen, dass sie so verlaufen ist und welche Umstände, Fähigkeiten und Willensintentionen mögen ihr folgen?

Wenn man diese beiden Biographien durch ihr jeweiliges Leben verfolgt, wird schnell deutlich, wie viel Wille (und Können!) darin liegt. Gerichteter Wille. Beide mussten sich mit zeitlichen, menschlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zurechtfinden – und das ist ihnen sehr unterschiedlich gelungen – aber der Wille war eindeutig und unumstößlich und so konnten ihre Gaben erblühen und irdisch ankommen. Sie waren beide Künstler. Und sie wussten, was sie konnten, was sie wollten. Oder: was sie sollten. Jedenfalls sieht das im Nachhinein und aus der Ferne so aus.

Nicht jeder Mensch wird mit so einem zielgerichteten Willen und einem daraus entstehenden Können geboren. Nein, ganz im Gegenteil. Welche Heerscharen von Menschen gibt es, die nicht so genau wissen, wozu sie hier sind, was ihr Auftrag, ihr Beitrag ist. Welcher Keim in ihnen schlummert, welche Saat aufgehen möchte. Ganz abgesehen davon zu wissen, was die Saat überhaupt braucht um aufzugehen.

Diesbezüglich scheint mir der Spannungspunkt zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft zu liegen. Zwischen mir und dir. Zwischen dem Individuum und dem Schicksalsnetzwerk, das ihn umgibt. Weiß ich selber, was ich will? Schaut meine Umgebung darauf, was ich kann? Beide Seiten haben Möglichkeiten Beiträge zu geben, dass der Einzelne zu dem erwacht, was in ihm schlummert und das auch handhabbar zu machen. Möglichkeiten zu bieten. Gegenseitige Unterstützung darzureichen. Einander einzuladen hervorzukommen, sich zu zeigen und dann anzukommen.

Über die berühmte Parzival-Frage: „Oheim, was wirret dir?“ habe ich schon öfters geschrieben. Die Wichtigkeit dieser Frage bleibt, sie ist der Ausgangspunkt meiner Anteilnahme am Anderen. Und ich glaube weiterhin, dass diese Frage von konstitutioneller Bedeutung für das soziale zwischenmenschliche Leben ist. Sie birgt ein großes Potential. Es gibt aber in der Parzival-Erzählung noch eine weitere Frage, die die dazugehörige Gegenseite zu der Frage an den anderen darstellt.

In seinem letzten Kampf begegnet der verzweifelte Parzival seinem Bruder Feirefiz – zunächst ohne dass sie sich erkennen. Denn sie wissen nichts voneinander. Sie kämpfen hart miteinander und so lange, bis Parzivals Schwert zerbricht. Und an Stelle dessen, dass Feirefiz nun Parzival besiegt, stellt er ihm eine Frage: „Wer bist du?“

Diese einfache Frage hat eine große Bedeutung und stellt die Gegenseite zur Frage an den Anderen dar. Parzival beginnt sich zu besinnen und etwas von sich preiszugeben. Er schaut auf sich selbst. Taucht in sich ein und eröffnet dem Anderen, seinem Bruder, einen Blick in sein Inneres. Im Mittelalter bezog sich die Antwort auf den Stand, die Herkunft etc. Ich glaube aber, dass die Möglichkeit, die in dieser Frage steckt, viel mit unserer Zeit und dem Wissen, was man wirklich, wirklich will zu tun hat. Eine Suche beginnt erst dann, wenn man den Ausgangpunkt kennt.

Denn erst nach dieser Begegnung mit Feirefiz und dem langen, langen und verzweifelten Weg dorthin, kann Parzival wider Erwarten durch Kundrie zum Gralskönig berufen werden. Was er gelernt hat ist: auf sich selber UND auf den Anderen zu schauen – Anteil zu nehmen.

Den eigenen Willen und das daraus entstehende Können zu entdecken und damit auf eine Reise zu gehen, hat mit mir selber und dem Schicksalsnetzwerk zu tun, in dem ich mich befinde. Wenn wir beginnen miteinander zu sprechen, einander davon zu erzählen, wer wir selber sind und den anderen zu fragen, womit er ringt, werden viele neue Räume geschaffen, wird die Saat gelegt, dass Blumen erblühen können.

Nicht jeder von uns ist stark wir Michelangelo oder verzweifelt wie Camille Claudel (und nicht jeder ein Bildhauer) – in jedem von uns steckt aber der Keim einer Blüte, die erblühen kann, wenn wir einander anschauen und uns anschauen lassen. Wie würde sich die Welt verändern, wenn jeder wüsste, was er wirklich, wirklich will. Und das dann auch tut.

1 Kommentar:

  1. Mit Fragen umzugehen, ist das nicht die Kunst von der Zukunft ? 1 Mensch + 1 Mensch wird dann mehr als 2 Menschen und das Ergebniss geht nicht in ein Museum. Ich freue mich wirklich, wirklich für die nächste NALM Zusammenkunft : die Parzifal Frage ...
    Josiane Simonin

    AntwortenLöschen