Donnerstag, 8. Juli 2010

Für Anja. Die stumme und geduldige Sprache eines Gebäudes

Ich laufe über den großen Hof und betrete das stattliche Gebäude durch den Haupteingang. Im Foyer fällt mir sofort etwas auf. Auf dem Boden stimmt etwas nicht. Da irritiert plötzlich ein Muster. Es dauert einen Moment, bis ich klar habe, was los ist. Der Boden des Foyers ist mit großen Steinplatten ausgelegt. Solchen Platten, die so aussehen, als ob ganz viele kleine Steinchen aneinander geklebt worden wären. In der Mitte des Foyerbodens fehlen drei Platten. Dort liegen andere Steine. Ein Muster. Ein Zeichen. Dort muss etwas geschehen sein. Es wird einen Grund haben. Ich kenne ihn nicht, aber ich bemerke die Veränderung.

Der zweite Eindruck sind die Wände. Es sind die gleichen, stummen, stillen Wände wie damals. Aber sie haben eine andere Farbe bekommen. Sie sind rot, gelb, grün, orange…. Dadurch sind sie irgendwie nicht mehr meine Wände. Fremd und vertraut zugleich. Waren unsere Wände nicht weiß? Die Türen des großen Saals aber nehmen mich auf. Die alten, hölzernen Türen, wahrscheinlich dunkler und speckiger geworden, haben noch immer ihre holzgeschnitzten, großflächigen Griffe. Dahinter verbirgt sich der Saal. Vor meinem geistigen Auge sehe ich, wie wir damals oft still davor warten mussten, bevor wir eintreten durften. Frau M. war die Türhüterin. Weißt du noch?

Und nun sitze ich im Saal, ich bin nur wenige Augenblicke vor Beginn der Veranstaltung gekommen – also habe ich keine Zeit mehr, mich weiter umzusehen. Ich sitze auf der linken Seite, an der oberen Schräge und schaue auf die Bühne. Anja, genau vor fünfundzwanzig Jahren haben wir zuletzt in diesem Saal, auf dieser Bühne gestanden um uns - nach bestandenem Abitur – von unserer Schule zu verabschieden. Um in die Zukunft zu gehen. Die offene Zeit. Der Blick auf die Bühne ist so vertraut für mich, als wäre keine Zeit vergangen. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen miteinander. Was damals Zukunft war, ist heute auch schon längst vorbei.

Was haben wir auf dieser Bühne nicht alles erlebt? Ich kann mich an meinen ersten Eindruck nicht erinnern. Aber es ist ein warmes Gefühl geblieben. Ich bin ja einige Jahre später gekommen als du, also nicht durch ein Blumentor aufgenommen worden – das war vermutlich deine erste Begegnung mit dieser Bühne, oder? – aber ich erinnere mich an die Gewichtigkeit dieser vielen Momente, wenn wir dort als Klasse, oder sogar allein, auftraten. Man konnte entweder von rechts kommen, aus der Richtung des Musiksaals eben, oder man musste ganz leise hinter der Bühne zur anderen Seite gehen, dorthin, wo es diesen kleinen, zum Zuschauerraum hin offenen Winkel mit dem schwarzen Flügel gab.

Als wir unser letztes Theaterstück aufführten, waren wir auch über der Bühne, dort, wo es heiß und stickig ist – von wo aus noch zusätzlich beleuchtet wurde und man hinunter schauen konnte. Und unter der Bühne war (ist?) ein Stuhllager – dieser hellen, unglaublich unbequemen und hochklappbaren Stühle, die zu meinem Erstaunen nicht mehr im Saal stehen! – und diese Holzverkleidung am Bühnenrand ist auch gestrichen worden. Er ist nicht mehr holzfarben, sondern rotbraun. Ich spüre eine gewisse Empörung in mir aufkommen. Wieso ist da so viel verändert worden? Es ist doch meine Schule! Und sie muss doch so aussehen, wie ich mich an sie erinnere…

Ich spüre eine doppelte Bewegung. Zum einen habe ich das Gefühl, dass überhaupt keine Zeit vergangen ist, dass die Zeit stehen geblieben ist, weil ich mich in dem Gebäude sofort wiederfinde, als hätte ich es gestern verlassen. Am deutlichsten lassen mich das die Treppengeländer spüren. Eine haptische Erinnerung also, die in meinen Händen sitzt. Und zum anderen habe ich das Gefühl, dass Urzeiten vergangen sind, dass sich eine längst verschüttete Zeit wieder öffnet und mit der Gegenwart verschränkt. Ich kenne kaum jemanden, sehe fast niemanden der mir bekannt vorkommt – und das ist verstörend, denn damals war die Schule mit all den Menschen, die wir kannten, doch irgendwie unser zweites Zuhause. Jeder kannte jeden! Jetzt ist es nur noch ein Ort, der Ort. Er ist geblieben und er fängt durch sein unerschütterliches Dasein sofort an, ein Gespräch mit mir zu führen.

In der Pause gehe ich über den hinteren Schulhof und setze mich auf die Treppe. Hier haben wir immer „Fangi“ gespielt. Damals, als wir noch Kinder waren. Und an diesen Hof ist auch meine erste Erinnerung geknüpft – an die du dich vielleicht nicht erinnerst, denn obwohl wir beide dabei waren, sind die Erlebnisse, die zu Erinnerungen avancieren ja sehr individuell. Als ich also neu dazukam – du warst schon vier Jahre da – und den ersten Tag in diese Schule ging, zeigte mir jemand, wo sich meine Klasse aufstellen würde. Und er zeigte auf ein Mädchen mit einem braunen geblümten Rock und einem bunten Filzhaarband. Das warst du. Und du bist geblieben. Vom ersten Tag an. Es entstand eine Freundschaft, die nun schon fünfunddreißig Jahre währt.

Ich bleibe auf der Treppe sitzen, es ist ein strahlend schöner Tag, zwischen Alter Villa, Neubau und dem Altbau – unserem Bau. Weitere Erinnerungen kommen. Die Ecken, in denen wir unsre ersten Zigaretten geraucht haben. Der Fünfecksaal, in dem ich staunend meine erste Eurythmiestunde bei Frau R. mitgemacht habe… Das Alte Lehrerzimmer, in das wir uns im Abiturjahr zurückzogen, gelitten und geschwitzt haben, verkrampft und voller Sorge saßen, als es um die Notenverteilung ging…

Und dann gehe ich übers Gelände, hinunter zum Kindergarten. Erinnerst du dich noch an die große Wiese? Und die schon damals alten Bäume? Sie stehen immer noch groß und prächtig und stolz da. Auch sie haben die Zeit überdauert. Hier haben wir auch Theater gespielt. Damals. Antigone. Wir waren Schwestern, weißt du noch? Jede Ecke des Geländes und der Gebäude bringen andere Erinnerungen hoch. Die Steine und die Bäume sprechen. Und da das Medium der Erinnerung die Sprache ist, dachte ich, dass ich dir von meinem Erlebnis schreibend erzähle.

2 Kommentare:

  1. ein freundliches hallo an die verfasserin, dies ist meiner meinung nach einer der wenigen texte, in dem man einen menschen hinter den texten erkennt. sonst ist vieles nur ein bericht, eine abhandlung, eine gegenüberstellung oder fragestellung und nicht erkennbar was die verfasserin fühlt und denkt.
    gruß lana

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  2. liebe lana,

    ist es das, was du hinter texten suchst? den menschen?

    wer bist du? ich würde mich freuen, etwas von dir zu erfahren!

    herzlich, sophie pannitschka

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