Städte werden von Menschen geplant, gebaut, bewohnt, zerstört, verherrlicht oder verkannt. Städte entstehen nicht ohne menschlichen Willen. Die Idee einer Stadt lebt in Köpfen und Herzen, die Umsetzung einer Stadt geschieht durch die Arbeit von Menschenhänden. Städte bestehen aus Häusern und Gebäuden, Straßen und Plätzen – durch verschiedene Anordnungen und das Arrangement von Steinen, durch das Verhältnis von Natur und Kultur. Menschen prägen Städte und Städte prägen Menschen.
Peter der Große hat um 1700 eine Reise nach Europa gemacht. Er suchte Anregungen um sein Land zu modernisieren. Besonders fasziniert hat ihn die Stadt Amsterdam mit dem vielen Wasser und den dazugehörigen Schiffen. Da er nicht nur einen starken Willen besaß, sondern auch noch Macht und unerschöpfliche Mittel, wurde 1703 mit dem Bau der Stadt Sankt Petersburg begonnen. Seine Wahl fiel auf die Newa-Mündung, ein sumpfiges Gebiet am Finnischen Meerbusen. Hier entstand am Ostseeufer das offene Fenster zu Europa.
Bereits 1706 wurde St. Petersburg zur Hauptstadt des Landes, denn sie war als solche konzipiert und wurde auch als solche realisiert. Viele Tausende von Leibeigenen haben die Stadt errichtet – viel Blut ist geflossen - und der Adel siedelte sich in prächtigen Gemäuern an. Zweihundert Jahre lang haben die Zaren in St. Petersburg geherrscht, bis sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der russischen Bühne abtreten mussten. Es folgten Revolutionen und Aufstände, Neuorientierungen und dann 900 Tage Belagerung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg sowie 70 Jahre Sozialismus.
All dies hat die Stadt über sich ergehen lassen. Auch heute noch ist sie eine prächtige Millionenstadt – die nördlichste Europas. Wenn eine Stadt einmal da ist, dann erträgt sie geduldig, was die Menschen in und mit ihr anstellen. Sie zeigt unumwunden ihre Wunden neben ihrer vergangenen Pracht. Schriftsteller wie Dostojewski, Puschkin oder Belyj erzählen die Geschichten von Einzelschicksalen – eingebettet in die Hinterhöfe der Stadt und die Intrigen der Mächtigen.
Weder im alten noch im sozialistischen Russland war es den Menschen vergönnt, ihre Individualität herauszustellen, auszuprägen, geschweige denn sie auszuleben. Die Fähigkeit sich unter- und einzuordnen kann man auch heute noch wahrnehmen, zum Beispiel im Ballett. Fasziniert bin ich den Tänzern mit meinem Blick über die Bühne gefolgt. Kein Schwan ist vom anderen zu unterscheiden, kein Tänzer vom anderen. Aber auch der Gesichtsausdruck eines Verkäufers in einem kleinen Produktui-Laden, der eines Verkäufers von Eintrittskarten, eines Busfahrers oder Bootsführers ist nicht zu entschlüsseln. Die Menschen wirken verschlossen und unnahbar – was innen geschieht bleibt verborgen.
Junge Brautpaare lassen sich an allen prominenten und erhabenen Orten fotografieren. In der Eremitage, in Peterhof oder in prächtigen Kirchen. Stolz oder hochmütig wirkt aber niemand. Man nimmt den Lauf der Dinge, und bewegt sich zwischen den jeweiligen Kulissen, die das Zentrum der Gegenwart bilden. Die russische Sprache ist allgegenwärtig, knapp dreihundert Millionen Menschen sprechen Russisch, als Tourist tut man gut daran, wenigstens die kyrillischen Buchstaben entziffern zu können um sich zu verständigen.
Die weißen Nächte im Sommer lassen die Nacht zum Tag werden. In diesen Wochen schläft kaum jemand. Die Brücken- und Uferfassaden sind in der Dämmerung hell erleuchtet und die Menschen sind in der nächtlichen Metropole unterwegs, als wenn es später Nachmittag wäre. Man sitzt, steht und läuft miteinander, trinkt, redet oder fotografiert sich. Der Newski-Prospekt – prominenteste Straße der Stadt – ist sechsspurig, und die Geschwindigkeit der an Straßencafés vorbei rauschenden Autos weit über unserer Gewohnheit. Straßenlärm und Pracht liegen nah beieinander. Ihren herausgehobenen Status wird diese Straße gewiss nicht verlieren.
Der Blick auf die zurückliegende Geschichte lässt manches der verwirrenden Zeugnisse verstehen. Als Frage bleibt, was das russische Volk vorhat. Die Stadt, die für uns im Osten und für das unermessliche russische Reich im äußersten Westen liegt, ist nicht unbedeutend, nein, hier wirken gewaltige Kräfte, die gelenkt werden wollen. Mich hat die Metropole betroffen gemacht.
Wohin geht die Reise der Stadt, werden die Russen erwachen und wird die Blüte St. Petersburg aufs Neue erblühen?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Hilde Domin
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