Samstag, 13. März 2010

Geschichtsschreibung. Für Silke

Als ich an diesem Morgen erwachte, sah ich durch das Fenster den blauen Himmel und den strahlenden Sonnenschein. Und ich wusste es sofort: Damit würde ich heute nichts anfangen können. Die Welt war zu hell. Ich wusste nicht, worauf ich mein Augenmerk da draußen richten sollte. Alles strahlte mir entgegen und die Dinge fanden keinen Widerhall in meinem Innern. Innen und außen ließen sich nicht verbinden. Zudem war die Welt kalt. Es lag Schnee. Überall glitzernder Schnee. Deshalb leuchtete die Welt so unverschämt.

Und ich spürte plötzlich, dass ich froh darüber war, dass die Welt heute so hell war und strahlte, denn dann konnte ich die Welt sich selber überlassen. Als ich unter der Dusche stand, klangen plötzlich Melodien in meinem Innern. Melodien aus einer tiefen Ferne, die ich jedoch sehr gut kannte. Und ich wusste es direkt: da kam eine alte Erinnerung auf. Es war die Musik der „Schmetterlinge“ einer österreichischen politrock Gruppe aus den 70er Jahren.

Über dreißig Jahre ist das her. Und da kommen plötzlich Klänge auf. Melodien, einzelne Worte… Ich sehe Szenen vor mir und kann fast wieder mitsingen. „Wir hatten Gräber und ihr hattet Siege. Wir haben für euch unsere Finger gerührt. Wir fraßen zu lange gezuckerte Lüge, beim falschen Wirt. Wir haben euch eure Kriege geführt. Jetzt führen wir unsere Kriege!“

Die fremden Worte „Père Lachaise“ kommen hoch. Worte, die damals in den Gesängen der aufmüpfigen „Schmetterlinge“ Signalwirkung hatten. Damals. Nie war ich dort, auf dem berühmten Friedhof in Paris. Aber ich habe noch immer die inneren Bilder vor mir, die damals entstanden. Die Erinnerung sitzt offensichtlich sehr tief und irgendetwas bringt sie heute ans Licht.

Die „Schmetterlinge“ waren mit politischer Geschichtsschreibung befasst. Die Gruppe wollte die großen Geschehnisse von unten beleuchten. So heißt ihr Hauptwerk auch: „Proletenpassion“. Es thematisiert die Herrschaftsstrukturen und sozialen Fragen in Europa vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Alle großen Revolutionen werden von unten besungen: Die Bauernkriege, 1500 – 1525. Die Französische Revolution, 1789 – 1792. Die Pariser Kommune, 1870/71. Die russische „Oktoberrevolution“ 1917. Der europäische Faschismus, 1923 – 1945.

Ich sehe die Schallplatten noch vor mir. Eine dunkelrote Sammlung mit mehreren Platten: „Proletenpassion“. Ein einfaches Wort. Aber was bedeutet es? Und wer schreibt eigentlich die Geschichte? Die Herrschenden oder die Unterdrückten? Gibt es wirklich nur diese beiden Kategorien? Und zu welchem Zweck das alles… Das ist DIE Frage, an die ich mich erinnere. Damals wurde alles in Frage gestellt. Noch nicht einmal der Geschichtsschreibung, die mir in der Schule vermittelt wurde, konnte man glauben. Wie war es wirklich?

Die Musik der „Schmetterlinge“ hat einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Und ich konnte damals jedes Lied mitsingen. Die drängenden Gesänge, in denen Geschichten über die Geschichte erzählt wurden. Von der unterdrückten, armen und schwachen Seite aus. Die „Schmetterlinge“ waren mein großes Vorbild. So wollte ich auch werden. Wirklich verstehen, was in der Welt vorgeht. Und dann Stellung beziehen. Ich bin zu jedem Konzert gegangen. Damals. Im Schauspielhaus Bochum. Das war eine bewegende und bewegte Zeit.

Ich trinke einen Espresso, schaue in die winterliche Landschaft und tauche in die Vergangenheit ein. Ich erinnere mich an meine Jugendfreundin Silke. Damals haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Die Erinnerungen an Silke und die „Schmetterlinge“ gehören zusammen. Als wir beide noch Mädchen waren, 14, 15 Jahre alt, da haben wir zusammen gesungen, in der Songgruppe „Trotz alledem“. Wir haben auf Straßen und Plätzen gestanden, im Sommer und im Winter und haben gesungen. Politische Überzeugungen preisgegeben. Wir wollten unsere Mitmenschen aufklären, die Welt verändern.

Zu den „Schmetterlingen“ blickten wir auf. Wie oft haben wir die „Proletenpassion“ wohl gehört? Unzählige Male. Und haben aus voller Kehle mitgesungen. Und Texte und Inhalte einfach hingenommen. Dass man Geschichte von verschiedenen Blickpunkten aus betrachten kann, das haben wir erst später verstanden.

Mit Silke habe ich mir damals auch vorgestellt, was aus uns werden könnte, wenn wir einmal groß wären. Älter wären. Selbstständig und erwachsen. Silke, das dunkle zarte Mädchen, mit den langen Fingern. Geige hat sie gespielt. Und französisch konnte sie sprechen. Sie hat gemalt und gedichtet. Und wir beide haben uns eine Welt vorgestellt, in der es keine Unterdrückung mehr gibt. Keine Atomkraftwerke, keine Startbahn West, keinen Kalten Krieg. Eine Welt, in der das Volk regiert. Und in der wir einen Platz finden und den Menschen erzählen, wie es früher war. Wir hatten große Pläne, viele Ideen und Ideale…

Silke, eine liebe Freundin aus Kinder- und Jugendtagen. Ein paar Jahre später, als wir an verschiedenen Orten studieren gingen, hat sie sich von der Welt zurückgezogen. Irgendwie konnte sie nicht mehr. Schon ganz früh. Sie hat ihren Platz nicht gefunden. Ist krank geworden, psychisch erkrankt. Und das ist sie immer noch. Sie lebt zurückgezogen. Abgeschottet von der Welt. Ganz für sich. Ob sie auch manchmal an unsere gemeinsamen Nachmittage und Wochenenden denkt? An unsere Wünsche und Träume? An die Zeit, als die „Schmetterlinge“ unser großes Vorbild waren? Als wir über alle Revolutionen dieser Erde gesungen haben – immer aus dem Blickwinkel der Unterdrückten? Und der Welt erzählen wollten, wie es wirklich war?

Wie kommt es, dass die Klänge und Worte der „Proletenpassion“ plötzlich hochkommen? Dass innerlich eine Musik erklingt, die ich so viele Jahre nicht gehört habe – geschweige denn an sie gedacht hätte… Wenn die äußere Welt schweigt, dann spricht die innere. Und die eigene Geschichte erzählt sich im Kontext der großen, allgemeinen Geschichte. Unter dem weißen Schnee liegen die Wunden verborgen und geschützt - nicht nur die der Geschichte - und irgendwann wird es wieder Frühling.

2 Kommentare:

  1. Dein Text berührt mich tief. Damals standest du an einer Wende und heute vielleicht wieder. Es ist so schwer sich zu entscheiden. Für das Richtige. Für die Ideale, die unter Schnee verborgen liegen und im Frühling vielleicht wieder auftauchen. L.G. von Elfriede

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  2. Silke, hübsch und zerbrechlich, damals schon. - Jedenfalls ein gutes Zeichen, dass Dir die Vergangenheit lebendig ist. "The first cut is the deepest" sagt man, aber manche(r) geht dennoch zur Tagesordnung über.
    VCM

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