Der eine wird 1932 in Bochum geboren, ein anderer 1936 in einer schlesischen Kleinstadt und ein dritter 1939 in Halle. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in früher Kindheit durch den Krieg in Deutschland und dessen Folgen geprägt werden. Jeder auf seine Art. Ihre Lebenswege werden sich einige Jahre später schneiden. Es wird eine gemeinsame Wegstrecke geben. Und dann einen Moment, in dem jeder seine eigene Abzweigung nimmt. Sie werden einander diametral entgegen stehen.
Einer beginnt 1952 Jura zu studieren, ein anderer 1955 und ein dritter 1960. Der Schnittpunkt: Sie begegnen sich Mitte der 60er Jahre als Anwälte in Berlin. Dort ist ordentlich etwas los. Ein neues Kapitel der deutschen Geschichte wird geschrieben: Die APO (außerparlamentarische Opposition) wird „gegründet“ – die Studenten geraten in Bewegung und beginnen unangenehme Fragen zu stellen und eigene Ansichten zu vertreten.
Otto Schily, Hans-Christian Ströbele und Horst Mahler arbeiten als Anwälte in einem sozialistischen Anwaltskollektiv. Sie vertreten linke Größen, später RAF Terroristen und, wenn es sein muss, auch einander. Ein Foto vom Beginn der 70er Jahre zeigt die drei in einem Gerichtssaal. Sie streiten miteinander und füreinander, hinterfragen Recht und Gerechtigkeit und argumentieren geschickt und auf höchstem Niveau. Sie wollen das Land verändern, die Republik „erneuern“. Schily und Ströbele verteidigen Mahler, als dieser wegen eines Molotowcocktails vor Gericht steht.
Menschen begegnen einander. Und manchmal berühren sie sich dabei. Zum Beispiel durch politische Überzeugungen, durch berufliche Fähigkeiten oder auf der Ebene der zwischenmenschlichen Begegnung. Nicht immer entsteht aus einem Schnittpunkt, einem Kreuzungspunkt der Biographie des einen mit dem anderen, ein Stück gemeinsamen Weges. Aber manchmal. Diese Überschneidungen spielen dann auch im biographischen Netzwerk des einen mit dem Netzwerk des anderen eine Rolle – manchmal entzünden sich daraus Aktivitäten, Initiativen, Bewegungen – es entsteht Bedeutung. Zwischenmenschliche, berufliche oder/und politische.
In der Betrachtung der drei individuellen Lebensläufe ist ein Stück deutsche Nachkriegsgeschichte zu finden. Notstandsgesetze. Rudi Dutschke. Prozesse in Stammheim. Herbst 77. Rüstungspolitik. Die Gründung der Grünen. Um nur ein paar Stichworte zu nennen. Individualitäten prägen Geschichte. Die Geschichte prägt Individuen.
Individuelles und Überpersönliches - Allgemeinmenschliches - trifft und überschneidet sich. Im Rückblick wird etwas vom Zeitgeist erlebbar und sichtbar. Biographische Entscheidungen sind immer mit Raum und Zeit verbunden. In dem Film „Die Anwälte“ werden drei Portraits gezeigt, die nicht enger miteinander verknüpft und gleichzeitig nicht weiter voneinander entfernt sein könnten. Die Dramaturgie des Lebens hat ordentlich mitgemischt. Die Stimmung, Fragen und Nöte der Jahre strahlen von der Leinwand ab und zeigen wie Brüche zu Gräben werden.
Was lässt sich eigentlich von außen erkennen, welche Möglichkeiten in der Biographie des Mitmenschen verborgen sind, welche Schätze oder Verwundungen darin versteckt liegen? Hätte man in den 70er Jahren vermuten können, wo die drei Männer vierzig Jahre später stehen? Hätte man ihre unterschiedliche Entwicklung „absehen“ können? Wonach richtet sich eigentlich die individuelle Entwicklung? Ohne karmische Verknüpfungen in der Vergangenheit macht das keinen Sinn – ist das nicht nachvollziehbar.
Denn die drei Männer vermeiden heute eine Begegnung miteinander. Wie ja bekannt ist: Otto Schily war Bundesinnenminister (SPD). Hans-Christian Ströbele ist bis heute das linke Gewissen der Grünen. Und Horst Mahler sitzt jetzt im Gefängnis, er gehört zu den rechtsextremen Holocaustleugnern. Zuletzt sind sich die drei 2002 begegnet. Wieder in einem Gerichtssaal. Im Verbotsverfahren gegen die Partei der Nationalsozialisten. Otto Schily tritt als Kläger gegen die NPD auf. Horst Mahler tritt als Verteidiger der NPD auf. Und Hans-Christian Ströbele ist parlamentarischer Beobachter.
Wie muss man sich das auf persönlicher Ebene wohl vorstellen?
Auf die Frage, „wie es dazu kommen konnte“, kann niemand antworten. Entwicklungen lassen sich nicht voraussehen. Veränderungen nicht berechnen. Auf dieser Ebene kann nur gelebt werden. Und zum Leben gehört das Staunen. Das Fehler machen. Die Neubesinnung. Die Umkehr. Die Möglichkeit der Veränderung. Die Lähmung. Folgen aber hat alles. Konsequenzen. Egal wie man sich entscheidet – jede Entscheidung zieht etwas nach sich.
In dem Film „Die Anwälte“ werden drei Lebensläufe gezeigt. Nebeneinander. Auf der Leinwand. Individuelle Interviews aus dem Jahr 2009 zur „Sache“ und den „Kollegen“ – verbinden die dokumentarische Ebene: Film-, Foto- und Textmaterial aus den letzten 40 Jahren. Schnittpunkte werden beleuchtet. Biographische Überzeugungen, die explizit verbalisiert werden, stehen individuellen Entwicklungen und Lebensverläufen gegenüber. Das Ende: Ströbele ein unbeirrbarer Linker, Schily ein Bürgerlicher in der konservativen Mitte, Mahler ein Rechtsextremer.
Dieser Film löst Betroffenheit aus. In mir. Weil er schonungslos berichtet. Weil er den großen Wurf macht, einen Spannungsbogen zeigt. Wunden nicht verschweigt. Weil er sichtbar macht, was es heißt zu leben. Mutig zu leben. Sich zu zeigen, sich einzubringen. Streitbar zu sein. Überzeugungen auszuleben. Mit und ohne Verständnis. Individuell und in der Verzahnung mit anderen Menschen, politischen Überzeugungen und Entwicklungen, mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands.
Ich selbst bin im Geist dieser Zeit aufgewachsen. Namen, Ereignisse, Fragen und Ansichten gehören zu meiner Kindheit. Zum täglichen Gespräch. Das Ringen „von damals“ schlummert in mir. Irgendwie habe ich das alles mitgemacht. Jetzt kann ich auf meine eigene Herkunft zurückblicken – auf der Leinwand.
Im Film blickt jeder der Beteiligten, der drei älteren Herren, auf seinen eigenen Weg zurück. Und doch entsteht ein Bild des großen Ganzen. Dafür ist dieser Film sehr zu loben, weil er weit über persönliche Fragen und Dimensionen hinausgeht. Dieser Film regt an, neue Perspektiven einzunehmen. Und auf Zeiten, Mitmenschen, und vor allem auf das eigene Leben neu zu schauen.
Alle genannten sachlichen Informationen, Hintergründe und ein Trailer des Films sind zu finden unter: http://die-anwaelte.realfictionfilme.de/index.php
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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