Die eigene Biographie wird oft mit einer Lebenslinie verglichen, einem Weg, den das Individuum geht oder gegangen ist. Selten wird das Bild benutzt, dass das eigene Leben aus einem Netz von langen oder kurzen, dicken oder dünnen Linien besteht, die sich kreuzen oder trennen und von denen man nie weiß, welche Bedeutung sie haben oder haben werden. Dieses Bild finde ich weitaus passender.
Auf der einen Seite ereignen sich die Dinge linear – ein Ereignis nach dem anderen – von der Geburt bis zum Tod. Unterstützt wird dieser Blickwinkel durch die Tatsache, dass sich der Mensch physisch immer nur an einem Ort aufhalten kann. Dagegen spricht aber, dass der Mensch nicht nur ein physisches Leben, sondern auch ein seelisches und geistiges führt.
Insofern ereignen sich „die Dinge“ auf den verschiedenen Ebenen polyphon. Es passiert vieles gleichzeitig und es finden unerwartete Durch- oder Abbrüche statt. Neben überraschenden Abgründen oder hochaufgetürmten Wänden können sich plötzlich auch mehrere gangbare Wege eröffnen – auch, wenn man sich physisch nur an einer Stelle befindet. Das Bild des „Lebensweges“ stimmt also und muss gleichzeitig weitläufiger und größer gefasst werden, als nur auf die physische Ebene bezogen. Es ist ein großartiges, verwirrendes und unüberschaubares Labyrinth von vielen Wegen.
In der Literatur werden Lebensläufe - so, wie das Leben innerlich und äußerlich ge-laufen wird, wie es ver-läuft - oft dargestellt. Schon im Mittelalter wurde in der höfischen Literatur von Lebenswegen berichtet. Klassische Helden sind in der deutschen mittelalterlichen Literatur meist Männer - Ritter - die abenteuerliche Wege beschreiten und für König Artus kämpfen. Helden sind diejenigen, die die Anforderungen von außen glänzend bestehen - sie besiegen Ungeheuer, böse Zwerge und retten Prinzessinnen aus verwunschenen Schlössern.
Bereits um 1200 entwickelt sich, in der sogenannten Artusepik, ein neuer Helden-Typus. Helden strahlen dort auf geheimnisvolle Weise nicht mehr durchgehend, und es geht auch nicht mehr nur noch um die bösen, gewitzten, hinterhältigen oder niederträchtigen Herausforderungen und Angriffe, die dem Kämpfer von außen entgegen kommen, sondern es geht auch um die inneren Anfechtungen, die aus individueller Persönlichkeit heraus entstehen. Neu ist nicht das Phänomen der Krise an sich, sondern neu ist die eigene Schuld, der persönliche Fehler, das individuelle Versagen.
Der mediävistische Fachbegriff für diese Art der Erzählungen ist: Doppelwegsepik. Was verbirgt sich dahinter? Nein, es sind nicht zwei Wege, die gleichzeitig gegangen werden, sondern es sind zwei Chancen, die dem Probanden gewährt werden. Zunächst zieht er, strahlend und seines Sieges meist gewiss, in die Welt hinaus um seine Abenteuer – seine Aventuiren – zu bestehen und seiner Dame zu dienen. Wenn er erfolgreich zurückkehrt – und jeder, der ein wirklicher Held ist, tut das – wird er am Artushof, ob seiner Erfolge, seiner Schönheit, seines Mutes oder seiner Taten, gefeiert.
Die „älteren“ Geschichten enden an dieser Stelle. Die Erzählungen aber, die zur sogenannten Doppelwegsepik zählen, beginnen nach dem ersten Erfolg spannend zu werden, denn es folgt ein Abstieg. Der Held macht etwas falsch, er verliert seine Ehre, genügt den Ansprüchen nicht oder er gerät in einen Hinterhalt, den er selber heraufbeschwört. Die Folge ist, dass er sich neu bewähren muss. Sein Glanz ist ermattet, seine Ehre angekratzt, sein Sieg fraglich oder sein Ansehen und Ruhm verblasst – das kann er nicht auf sich sitzen lassen.
Er muss also aufs Neue aufstehen, sich zeigen und „ausreiten“, Möglichkeiten suchen, Wege beschreiten. Und das tut er auch. Er zieht ein weiteres Mal aus, um sich zu zeigen und selber zu spüren, wer er ist. Wenn er seine eigenen Fehler überwindet, sein Scheitern und die damit verbundene Krise in sich integriert, dann erstrahlt er ein zweites Mal und sein Heldentum wird ihm nicht wieder genommen. Er hat es dann „wirklich“ und „für immer“ geschafft – er ist auf dem Königsweg angekommen und ein „echter“ Artusritter.
Wie kommt es, dass dieses persönliche Scheitern, in das der Held geraten ist, ihn nicht niederwirft und „auf den Boden“ legt? Die höfische Gesellschaft gesteht dem Individuum also bereits um 1200 eigenverschuldete Krisen, Fehler und Unzulänglichkeiten zu, obwohl das offizielle Konzept das nicht vorsieht. Die Doppelwegstruktur der mittelalterlichen Epik hat Signalcharakter. Und trotzdem tun wir uns heute noch schwer, biographische Tiefpunkte - unbekannte Seitenwege oder Sackgassen - auszuhalten. In der Literatur werden diese vielen Wege aber auf allen Ebenen deutlich beschrieben.
Nach den Helden, die einen doppelten Weg gehen mussten, wurden auch die sogenannten Antihelden, die Scheiternden, die Untergehenden und Schwachen literarisch gezeigt, es gibt eine Menge Beschreibungen von denjenigen, die es nicht geschafft haben. Heute stecken die Ungeheuer, bösen Zwerge oder zu rettenden Prinzessinnen in uns selber. Der „Kampf“ findet also im Inneren statt. Und sowohl die literarischen Gestalten der Gegenwart als auch die realen Menschen stehen vor den gleichen Herausforderungen.
Entsteht nicht gerade aus dem Scheitern und der Katharsis am Tiefpunkt eine Kreativität, neue Fähigkeiten, Geistesgegenwart und persönliche Integrität, die zukunftsweisend - auch über ein Leben hinaus - sind? Biographien, das, was das Leben des Einzelnen (in die Erde) schreibt, erweisen sich bei genauem Hinsehen als ein weitläufiges Wegenetz – eingegrenzt von Geburt und Tod (und neuer Geburt und neuem Tod). Selten wissen wir, an welchem Punkt des Gesamtweges wir uns gerade befinden.
Von dem Mut, dem Stolz und dem Glanz der mittelalterlichen Helden, die das Vertrauen hatten, dass die eingeschlagenen Wege die richtigen sind, könnte sich manch einer heute eine Scheibe abschneiden. Aber auch ein "König Artus", der eine anerkennende Instanz ist, könnte sich heute deutlicher zeigen.
Individueller, biographischer Sinn konstruiert sich erst durch die vielen Wege, die wir tatsächlich und gleichzeitig und mutig beschreiten – auch, wenn wir nicht wissen, wann und wo wir ankommen. Die biographische „Lebenslinie“ präsentiert sich als biographisches Netz, das die unterschiedlichsten Wege beinhaltet. Schaut sich das eigentlich die Literatur vom Leben ab, oder das Leben von der Literatur?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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