Dienstag, 19. Januar 2010

Moskau. Macht, Masse und Innerlichkeit in Europa.

Ausgehend von der Einsicht, dass Europa eine Idee, ein Urbild, ein Gedanke und weniger ein geographischer Raum zu sein scheint, blicke ich auf Moskau. Wie zeigt sich Europa an seinen östlichen Grenzen? Gibt es eine eindeutige Antwort auf die Frage, was die Idee „Europa“ beinhaltet, was diese Idee ist? Feststellen lässt sich, dass innerhalb dieses Europa-Urbilds Moskau einen Beitrag leistet. Es ist die größte Stadt, stellt also das größte Abbild dieses Gedankens dar. - Wo genau verläuft eigentlich die Ostgrenze von Europa? Und, gibt es innerhalb von Ideen überhaupt Grenzen? -

In Moskau leben über 10 Millionen Einwohner, plus all die Menschen, die jeden Tag in die Stadt fahren um dort zu arbeiten, oder die als Touristen kommen. Es wird geschätzt, dass sich jeden Tag mehr als 20 Millionen Menschen an dem Ort, den wir Moskau nennen, aufhalten. Moskau ist eine Stadt der unüberschaubaren Ansammlungen, der Menge, des Gedränges, Gemenges und des Getümmels. Es ist die Stadt der Masse. Menschen- und Automassen prägen das Bild. Die Spannung der Stadt offenbart sich zwischen den goldenen Zwiebeltürmen der Vorzeit und den verkommenen Metrostationen der Jetztzeit.

Im Außen gibt es für die Russen noch immer nicht so viel zu holen. Zwar teilt sich die Stadt ihren Sowjetcharme der unendlich vielen - baufälligen - Hochhäuser mit den sakralen Bauten der russisch-orthodoxen Kirche, zu spüren bleiben aber die alles umschlingenden, kalten Winter. Ein Riss geht durch die Stadt. Die lange, schneereiche Jahreszeit scheint überall und immer präsent zu sein, obwohl der Himmel blau ist und die Sonne warm scheint. Moskau ist keine Stadt des Südens, des Draußen- und Aufgehobenseins - Moskau ist eine Stadt der Innenräume, die erkämpft werden müssen.

Gerade das ist die delikate Wunde der fast 900jährigen Geschichte dieser Stadt. Innenräume geben klare Statements. Was aber, wenn sich der Zweck ändert? Wenn die älteste Kirche zugunsten eines modernen Sowjetschwimmbades weichen muss? Wenn Revolutionen die Geschichte prägen und ihre Spuren hinterlassen? Was, wenn das Statement eines Raumes Verwirrung auslöst? Wenn nicht mehr klar ist, was sich hinter dem Zweck, der Aussage verbirgt?

Der Moskauer Kreml verdeutlicht dieses Bild: das Machtzentrum des Landes ist eingezäunt. Schon seit eh und je. Die stolzen Mauern des Kremls umrunden einen Ort der Macht, den Ort der Macht. Es ist das Herrschaftszentrum über das unendlich große, mütterliche, russische Reich. Diese Macht ist spürbar. Als Energie, als Kraft deutlich wahrnehmbar. Im Äußeren aber nicht festzumachen, indifferent. Strahlen die alten Kirchen - mit ihren goldenen Türmen - diese Kraft aus? Oder das Parlamentsgebäude aus sowjetischer Zeit? Sind es die Aufpasser und Wächter, die darauf achten, dass die Touristen die markierten Wege nicht verlassen? Die gigantische Zarenkanone? Die russische Macht ist nicht zu fassen. Aber wahrzunehmen. Der Kreml ist ein alter Ort und der Zar ist auch nach hundert Jahren noch präsent. Spürbar ist ein gewaltiger Zeitstrom in dem alles gegenwärtig scheint. Gegenwart und Vergangenheit verschränken sich hier. Mir verschlossen bleibt die Zukunft. Wohin wird sie das Land führen?

Auf den Straßen gibt es keine Kinder. Es sind Erwachsene, alte Leute, die das Stadtbild prägen. Unendliche Menschenkolonnen. Wer mit der Metro fahren will, muss sich in diesen Strom einordnen. Die langen, steil abwärts führenden Rolltreppen nehmen mich mit in den Schlund der Stadt. Mit rasender Geschwindigkeit braust die Metro durch die Schattenwelt. Wer nicht weiß, wo er hin will, ist verloren. Hier kann man sich nur einordnen. Mitgehen. Sich vom Strom des Geschehens mitreißen lassen. Es gibt prächtige U-Bahn Stationen und verkommene, marode und abgewirtschaftete, alles deutet auf die wechselvolle Geschichte des Landes hin.

Möglicherweise ließe sich die russische Geschichte anhand der Metro-Stationen erzählen. Was aber wären diese Orte ohne Menschen? Unten, vor den unendlich langen Rolltreppen stehen kleine Glashäuschen. Darin sitzt ein Wärter, ein Wächter. Oft ist es eine Frau. Ihr Job ist es, die Reisenden auf der Rolltreppe zu beobachten. Den ganzen Tag Unmengen von Menschen an sich vorbeiziehen zu lassen. Diese Fülle prägt die Stadt Moskau, sie ist Teil der Idee Europas. Unterirdisch wird das durch den Menschenstrom in der Metro sichtbar, oberirdisch durch die nicht enden wollenden Autokolonnen. Fahrräder oder Motorräder gibt es nicht. Das wäre auch viel zu gefährlich. Aber auch sechsspurige Straßen werden von Menschen mit kleinen Besen aus Birkenzweigen gereinigt…

Und die Menschen - sie strahlen etwas aus. Faszinierend finde ich das Antlitz der Russen. Ich sitze im Bus und betrachte Gesichter. Viele sind verschlossen, in sich gekehrt und haben einen groben Ausdruck. Ich sehe breite Gesichter mit einem nach innen gekehrten Blick. Drückt sich in diesen Gesichtern Ohnmacht aus? Nein, es ist Innerlichkeit. Eine verschlossene Tür zum Innenraum des Menschen. Die Russen präsentieren sich äußerlich verschlossen, fast abweisend. Innerlich aber lässt sich ein reiches und warmes Seelenleben erahnen. Wie ließe es sich sonst aushalten zu beobachten, dass sich ein altes Mütterchen vier Klohäuschen aus blau-weißem Plastik kauft, sie an den Straßenrand stellt und die Menschen einlädt für 15 Rubel ihre Toilette zu benutzen? Ohne eine reiche Innenwelt ist das unvorstellbar. Die russische Seele offenbart sich, sobald die Menschen sprechen - oder in einer Kirche singen. In ihrer warmen, klangvollen Sprache, die reich an Vokalen ist.

Ein großes Abbild dieser warmen, offenen Seele finde ich in der Tretjakowa-Galerie. Dort hängt die unglaublich große und prächtige, feine und schöne Ikone von Andrej Rubljew - ich glaube, es gibt keine größere Ikone auf der Welt - es ist der Pantokrator, gemalt 1408. Die Kraft dieser Christusgestalt geht von seiner Feinheit aus, von seiner Offenheit. Von seinem Ja zu jedem einzelnen Menschen. Und ich möchte fast schreiben: von seiner Liebe. Sein Blick von innen nach außen und gleichzeitig von außen nach innen umfasst alles. Nimmt alles auf. Der Pantokrator symbolisiert Macht, Kraft, Autorität - und Ohnmacht, Schwäche, Bedeutungslosigkeit in einem. Sein Blick strahlt Herzenskräfte aus. Das, was wir das menschliche Leben nennen. Er schaut aus dem Zentrum des einzelnen Menschen in seiner Verwundbarkeit in die Welt und gleichzeitig in diese Mitte hinein. Trotz der Zerbrechlichkeit. Er wird zum Schnittpunkt von Innerlich- und Äußerlichkeit. Für den Besucher erlebbar, wenn er dem Bildnis gegenüber steht.

Die Ikone feiert ihr 600-jähriges Bestehen. Rubljew hat wohl kaum geahnt, dass er ein göttliches Abbild des modernen russischen Menschen in seiner Innerlichkeit gestaltet hat. Dass dieses Bild als Vermittler zwischen Außen- und Innenwelt des Menschen in Moskau im 21. Jahrhundert dienen kann. Das Abbild wird zum Urbild: Christus zum Menschen, der Mensch zu Christus. Oberwelt und Unterwelt verschränken sich miteinander. Die östliche Metropole, begriffen als das Tor in die westliche Welt. Der Einzelne ist Teil der Masse - Ohnmacht ergänzt Macht. Die Aura der Stadt präsentiert sich im Zeitenstrom der Geschichte. Moskau, ein Abbild der Idee Europas: Macht, Masse und Innerlichkeit.

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