Dienstag, 26. Januar 2010

Der konstruktivistische Zeitgeist. Leben ohne Boden unter den Füßen und ohne Sternenhimmel über dem Kopf.

Innerhalb meines berufsbegleitenden Masterstudienganges der Pädagogik an der Alanus Hochschule sitze ich in einem Seminar über Pädagogische Psychologie. Das Seminar wird von einem Privatdozenten der Universität Bonn geleitet. Ein geachteter, ehrenwerter Repräsentant seines Faches, ein Hochschullehrer, der den Stand der heutigen Psychologie darstellt und vertritt.

Er führt uns in sein Fach ein und skizziert die Fragestellungen, die uns als Pädagogen mit der Psychologie verbinden. Ich höre dem Dozenten zu, bin thematisch bei den Ausführungen, aber nicht sehr angestrengt, denn durch mein eigenes Studium der Erziehungswissenschaft sind mir die Begriffe geläufig, ich habe von Themen, Berichten, Bereichen und Perspektiven schon gehört. Es geht um Lernmodelle, um intrinsische und extrinsische Motivation, um Schule und Gesellschaft und einiges mehr. Nebenbei macht der Dozent aber eine Bemerkung über das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Psychologie heute, über den Zeitgeist. Diese Bemerkung packt mich.

Er sagt: „Obgleich das griechische Wort ‚Psychologie‘ mit ‚Lehre der Seele‘ übersetzt werden kann, gibt es in der heutigen Psychologie den Begriff der Seele nicht mehr. Jegliche psychologischen Betrachtungen über den Menschen werden ohne den Begriff der Seele gemacht.“ Und weiter: „Die heutige Psychologie arbeitet ohne ein explizites, deutlich beschreibbares, klar umrissenes Menschenbild.“

Das sind Tatsachen, die ich eigentlich schon kenne. Plötzlich aber werden diese Aussagen real und ich frage mich, wie ich mir das konkret vorstellen soll. Wie kann das gehen und was bedeutet dieser Umstand eigentlich? Die Human-Psychologie arbeitet mit dem Menschen – und es gibt kein explizites Menschenbild mehr worauf sie sich gründet. Und die Psychologie sagt von sich selbst, dass sie auf der Ebene der menschlich-seelischen Ereignisse kundig und tätig ist – es gibt aber explizit keine Seele mehr, die zum Menschen gehört. Auf welchem Boden steht die Psychologie heute? Was ist ihre Grundlage? Wie ist ihr Selbstverständnis? Wie schaut sie auf Menschen?

Ob der Betroffenheit, die im Seminar entsteht, denn es ist zu spüren, dass noch weitere Teilnehmer mit diesen Fragen ringen, erläutert der Dozent entschuldigend: „Alle Disziplinen sind von ihren Grundfragen abgerückt. Es gibt keine Antworten mehr darauf. Die Wissenschaft hat ihr Augenmerk auf andere Ebenen gerichtet. Auch die Biologen wissen nicht, was Leben ist, die Physiker können die Natur nicht mehr definieren und die Erziehungswissenschaftler äußern sich nicht mehr darüber, welches Bild vom Menschen ihren Ansichten, Forderungen oder Erkenntnissen zu Grunde liegt.“

Durch diese Aussagen spüre ich plötzlich, welchem Zeitgeist wir unterlegen sind. Ich bin in der Gegenwart angekommen. Die Orientierungslosigkeit und die menschliche Verlorenheit unserer Zeit ist bei uns im Seminarraum spürbar. Der Mensch, ein Konstrukteur und Schöpfer seiner selbst. Gewissheiten, Allgemeingültigkeiten oder auch Überzeugungen gehören der Vergangenheit an. Ein Aufgehoben sein gibt es nicht mehr. Das Mittelalter ist längst vorbei, wir leben noch immer im Zeitalter der Aufklärung – ja, und da gibt es eben keinen festen Boden mehr.

Mir wird plötzlich klar, dass die einzige sich heute anbietende Schlussfolgerung in diesem Zusammenhang die kraftvolle Geistesströmung des Konstruktivismus ist, dessen Annahme es ist, dass es keine fest stehenden Korrelationen zwischen Himmel und Erde, Mensch und Umwelt, zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Wahrnehmung und Außenwelt gibt. Das Passungsverhältnis zwischen äußerer Realität und innerer Erkenntnis entspricht dem Verhältnis von Schlüssel und Schloss. Es ist möglich, mit verschiedenen Schlüsseln ein Schloss aufzuschließen und die meisten Wissenschaften sind dazu übergegangen, einen Dietrich zu benutzen…

Der Mensch erfindet also seine Wirklichkeit. Das, was von Menschen als objektive Wirklichkeit bezeichnet wird, ist immer subjektiv. Und ich höre die eindringliche Stimme des Kommunikationswissenschaftlers Watzlawick imaginär: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Die heutige Wirklichkeit wird von uns erfunden, erzeugt und konstruiert sowie entdeckt. Sowohl das Subjekt, als auch das Objekt sind Konstruktionen des Menschen - in diesem Sinne gibt es keine gemeinsame - reale - Wirklichkeit mehr. Alles ist möglich. Also auch eine Psychologie ohne den Begriff der menschlichen Seele. Und ein Blick auf Menschen – ohne Menschenbild.

Jedes Menschenbild ist eine persönliche Konstruktion und Interpretation des Menschen in der Welt. Und ich unterstelle, dass jeder Mensch ein implizites Menschenbild hat. Abgesehen davon, ob er das auch explizit verbalisiert und begründet. Ob ein Bild nun anthroposophisch, buddhistisch, hinduistisch, humanistisch, christlich oder sonst wie geprägt ist, spielt dabei keine Rolle. Nicht die Frage nach seiner Richtigkeit ist das Entscheidende, sondern die Frage ist, was auf ein Menschenbild folgt – was daraus entsteht, welche Möglichkeiten sich entwickeln. Ob und wie der Mensch handelnd in die Welt eingreift, hängt maßgeblich davon ab, wo und wie er sich als Mensch, als „human being“, positioniert.

Der Boden unter unseren Füssen führt uns zwischen Himmel und Erde und von Mensch zu Mensch nur dann zu einem Ziel, wenn wir wissen, wohin wir wollen und die Sterne am Himmel bekommen nur dann eine Bedeutung, wenn wir sie ihnen geben.

7 Kommentare:

  1. Liebe Sophie, vielleicht ist es hilfreich, darauf zu schauen, wie der Konstruktivismus "philosophisch" entstanden ist. Bei Philosophen wie Foucault und Derrida findet eine Wendung statt: man schaut nicht mehr aus das Gewordene, sondern auf was "im Kommen" ist. Der Mensch wird als ein Gestalter verstanden. Um etwas Neues zu kreieren, muss das Alte immer zerstört, "dekonstruiert" werden. Vor allem Derrida war ein Meister auf dieser Ebene. Die Frage ist schon spannend genug: was sehen wir eigentlich, wenn wir auf alte Menschenbilder verzichten? Hinter den Konstruktivismus scheint mir eine tiefe Sehnsucht zu stecken: sich von der Vergangenheit zu befreien und sich für Neues zu öffnen. Die Schlußfolgerung, dass alle Weltanschauungen und Religionen Konstrukten sind, scheint mir allerdings unbegründet. Erst in der moderne und postmoderne Zeit sind wir im Stande, die Freiheit zu ergreifen. Die Tatsache, dass wir das JETZT können, bedeutet nicht, dass es im Grunde genommen IMMER so gewesen ist. Herzlich, Jelle van der Meulen

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  2. Lieber Jelle. Vielen Dank für deine Bemerkungen. Mein Kenntnisstand dieser kritischen Erkenntnisströmung „Konstruktivismus“ sieht so aus: Philosophische Grundfragen – und somit auch konstruktivistische Fragestellungen! - nach Sein und Schein, Wahrheit, Wirklichkeit und der Stellung des Menschen in der Welt zwischen Himmel und Erde lassen sich weit zurückverfolgen. Schon bei den beiden vielzitierten alten Griechen Platon und Aristoteles lassen sich verschiedene Haltungen den Erscheinungen der Welt gegenüber sehen.

    Platon vertritt die Ideenwelt (den Idealismus). Er sieht das wahrhaft Seiende (das Ewige) in den Urbildern und Ideen - nicht „in den Dingen“. Urbilder und Ideen sind für ihn das Urwirkliche - „Dinge“ sind Abbilder von Ideen. Aristoteles hingegen ist eher auf „die Dinge“, die materielle „Wirklichkeit“ orientiert und wird damit aus dieser Perspektive zu den „Realisten“ gezählt.

    Aber wie ist es eigentlich?
    Spricht sich nun „das Ding“ aus, oder spricht sich „die Idee des Dings“ aus?

    Der Konstruktivismus speist seine Grundgedanken aus den verschiedensten Einzeldisziplinen: vornehmlich aus der Biologie, der Neurophysiologie, der Kybernetik und Soziologie, und natürlich der Philosophie, den Sprachwissenschaften u.a.m.

    Auch seine Argumentation, sich nicht auf ontologischer, sondern auf epistemologischer Ebene zu bewegen, kann ich noch nachvollziehen. Seine Grundthese ist durchaus denkbar: Das, was wir als Wirklichkeit erleben, ist nicht ein passives Abbild der Realität, sondern das Ergebnis einer aktiven Erkenntnisleistung. Die zentrale - und durchaus berechtigte! - Frage des Konstruktivismus ist: was sehen wir also, wenn wir etwas sehen?

    Und das eine Antwort darauf nicht in den Objekten, d.h. außen, „in der Realität“, sondern innen, im Subjekt selbst gesucht wird, kann ich auch noch denken. Auch die Konstatierung, dass die gefundenen „Wirklichkeiten“ verschieden, konstruiert, erbaut, geschaffen worden sind, kann ich mir noch vorstellen.

    Was mich aber sprachlos macht ist der Umstand, dass selbst das, was als individuelle Realität erkannt wird, kaum kommuniziert wird. Warum gibt es an dieser Stelle so viel Zurückhaltung?

    Ich denke, dass gerade daraus so viel Unverbindlichkeit, Unsicherheit, Verwirrung und Verlegenheit entsteht.

    Herzlich, Sophie

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  3. Liebste Sophie,
    Dein letzter Blogbeitrag hat mich doch aus meiner anthroposophischen Altersstarre gerissen. Ist zwar offenbar letzter Stand unserer Wissenschaft – aber: „Auch Nabobs Weinberg war schon mal“. (Goethe, Faust). Schon vor Jahrzehnten habe ich unseren Kindlein das Grimm-Märchen von der „Klugen Else“ erzählt, die ihr Leben dank hoher „Intelligenz“ so dämlich klug arrangiert hatte, dass sie zum Schluss nicht mehr an ihre eigene Existenz glauben konnte, geschweige um sie „wusste“. Das Herumirren in den Spiegellabyrinthen unseres Bewusstseins wird zum Inhalt eines Lebenssurrogates, das vor den Schrecknissen einer tieferen Wahrheit bewahrt. Wer die Geheimnisse des Bewusstseins erforschen will, pult im Gehirn herum, anstatt sich in die Einsamkeit bzw. in sich selbst zurückzuziehen und im eigenen Bewusstsein herumzubohren, wo sich die unschönen Dinge, aber auch die Wahrheiten in Reinkultur finden lassen. Seit zwei Jahrhunderten schon beweist uns die Sinnesphysiologie das immer neu aufgetischte „Ignorabimus“. Aber „der Doktor“ (Steiner) hatte auch hier recht, wenn er den Weg der Moderne als Einweihungsweg der Gesamtmenschheit ansah: Es kommt darauf an, sich in eimem völligen Nichts halten zu können, den eigenen Existenzmittelunkt im eigenen Nichts zu finden. Aber so weit sind wir ja derzeit noch nicht, noch geniessen wir unsere zahllosen Illusionen.
    In diesem Sinne noch eine Buchempfehlung: Mark Rowlands, „Der Philosoph und der Wolf. Was ein wildes Tier uns lehrt“ Rogner und Bernhard. (Hinreissend begeisternd, Bestseller bei Zweitausndeins)

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  4. So ganz anonym sollte der Kommntar Nr. 3 "Liebste Sophie" ja doch nicht sein - er stammt von Wolfgang Gervelmann, der bemüht ist, an der Existez seiner Perönlichkeit festzuhalten.

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  5. Aber, nachdem er in seinem kurzen neuen Abschnitt vier Rechtschreibefehler entdeckt hat, an der Stabilität dieser Persönlichkeit auch zu zweifeln beginnt.
    Liebe Grüsse! Wolfgang Garvelmann

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  6. Lieber Wolfgang, herzlichen Dank für deine Kommentare! Ich werde mir gleich mal das Märchen raussuchen... das auch Grimm schon in der Lage gewesen sein sollte "konstruktivistische" Erzählungen weiterzugeben hätte ich ja nicht gedacht! Herzlich, Sophie

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  7. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang: man kehrt im Herbst das Laub zusammen und zündet es an. Asche düngt die Erde, Altes stirbt und wird wieder neu.
    Ganz so einfach ist es natürlich nicht, liebe Sophie Pannitschka, deshalb danke für das Benennen! Besonders der Aspekt der fehlenden Seele lässt mich weiterdenken.
    Sich für Neues öffnen bedeutet ja auch, die Halteseile loszulassen. Es bedeutet auch, dass nicht unbedingt das Neue gleich an Ort und Stelle wartet, sobald wir den Halt verlieren.

    Herzlichen Gruß, Inga

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