Montag, 31. August 2009

Suchen, gehen und finden. Über Parzival und Picasso

Wenn man auf die Geschichte von Parzival schaut, auf seinen langen Weg, den er vom Fortgang von seiner Mutter bis zur Erlangung der Gralskönigsschaft beschreitet, dann kann man eine Perspektive einnehmen, die das Suchen und Finden Parzivals in den Blick nimmt. Was ist es aber eigentlich, was er sucht? Und was findet er tatsächlich?

Das Verb „suchen“ bedeutet ursprünglich, „nachspüren, wittern, ahnen“ und wird im weitesten Sinne von „sich bemühen, etwas Verstecktes oder Verlorenes zu finden“ gebraucht. „Suchen“ beinhaltet also, sich (vorsichtig) zu bewegen. Von einem Ort zu einem anderen, von einer Tatsache zu einer nächsten oder eben von einer Ahnung zu einer weiteren – und das alles mit dem Gespür für das Unbekannte, Neue, Fremde, noch nicht Erreichte. Der Suchende „erstrebt“, „trachtet“, „ahnt“ oder „spürt“ etwas, nach dem er sucht (und das er finden will), er beginnt etwas, öffnet sich, er ist im Kommen.

Das Verb „finden“ bezeichnet den Endpunkt einer Suche – ob sie nun bewusst oder unbewusst vollzogen wurde. Etymologisch kommt das Wort von „auf etwas treten, antreffen, auf etwas kommen“. Die indogermanische Wurzel des Wortes verweist auf „treten“ und „gehen“. Somit gehört auch zum Finden die Bewegung – ob gedanklich oder physisch. Sie muss stattgefunden haben, sonst lässt sich nichts finden. Jemand, der etwas „findet“ ist im Ankommen, er hat sich oder etwas „gefunden“ – innerlich oder äußerlich – er nimmt einen Platz ein, kommt an.

Parzival ist im Laufe seiner Kindheit in der Einöde Soltane, von seiner Mutter Herzeloyde von der Welt abgeschirmt, in eine innere Unruhe geraten. Er lebt in der Natur und ist lediglich mit den Spuren der Tiere vertraut. Ihre Sprache kann er lesen. Mit den unterschiedlichen Menschen, mit Kultur und Gesellschaft ist er nicht bekannt. Er ahnt aber, dass es noch etwas anderes als das abgeschirmte Leben geben müsse. In ihm regt sich die Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, Neuen. Er macht sich auf den Weg.

Er trifft auf drei Ritter in ihrer goldenen Rüstung – und er hält sie für Götter. Obwohl er nicht weiß, was er weiß, weiß er plötzlich ganz genau, dass er auf der Suche ist – bislang innerlich und nun auch äußerlich. Parzival verlässt seine Mutter und macht sich auf den Weg, er sucht König Artus – denn das hatten ihm die Ritter gesagt – wenn er so einer werden wolle wie sie, dann müsse er König Artus suchen und finden.

König Artus „findet“ er relativ schnell und er ergattert auch – wenn auch auf unlautere Weise – eine Rüstung. Ist er nun angekommen? Nein. Nun beginnt erst seine eigentliche Suche. Die Suche nach seinem Leben. Seiner Bestimmung. Die Suche nach Sinn. Er „ahnt“, dass es da etwas zu finden gibt. Aber er weiß nicht, was er sucht. Er lässt sich von seinem Pferd leiten. Die Zügel sind locker und das Pferd wählt den Weg – es führt ihn seinem Schicksal entgegen.

Im Laufe des Fortgangs der Geschichte trifft Parzival auf allerhand Figuren und Gestalten, auf Bezugspunkte, von denen er vorher nicht die leiseste Ahnung hatte. Sein Schicksalsnetzwerk wird sichtbar. Er begegnet, neben weiteren Figuren, seiner Cousine Sigune, die ihm wichtige Informationen über ihn selbst gibt, Gurnemanz, der sich ihm als Lehrer anbietet, Trevrizent, seinen Onkel, der ihn in die Gralsgesellschaft einführt, er begegnet Condwir amurs, die ihn die Liebe lehrt, Artus, der ihm zum Gewissen wird, er findet Freunde - Gawan -, er trifft seinen Bruder - Feirefiz - und erlebt manche Aventuire – manches Abenteuer, das aus der Zukunft auf ihn zukommt.

Einmal macht er sich bewusst auf den Weg. Nachdem er Condwir amurs in Pelapeire geheiratet hat, will er seine Mutter suchen, denn er will sie be-suchen und reitet fort. Was er aber findet, das ist der Gral. Er gerät nach Munsalvaesche auf die Gralsburg, die sich nur un-ge-sucht finden lässt. (Seinem gescheckten Bruder Feirefiz aus dem Morgenland geht es übrigens ähnlich: er reitet fort um seinen Vater zu suchen. Was er findet, das ist Parzival – sein Bruder.) Nachdem Parzival später verstanden hat, was er bei seinem ersten Be-such auf der Gralsburg versäumt hat, will er den Weg wieder-finden. Er „sucht“ den Gral – der sich nicht finden lässt.

An dieser Stelle des mittelalterlichen Epos wird deutlich, wie eng die Begriffe suchen und finden miteinander verknüpft sind und gleichzeitig, wie sehr sie voneinander entfernt sind.

Parzival macht beides, er gibt seine Suche auf und führt sie gleichzeitig fort – er „ahnt“, „spürt“, „wittert“ und geht so lange weiter, bis er „auf etwas tritt“. Seine Suche nimmt (vorerst) ein Ende als er endlich die Gelegenheit hat, seinen Onkel mit der berühmten Frage zu heilen – und damit seine eigene Unterlassungssünde zu sühnen.
Er sucht, er-sucht, ver-sucht, be-sucht, unter-sucht und findet, be-findet, emp-findet und er-findet – bis er bei sich selber ankommt.

Das Epos Parzival ist eine Geschichte des Suchens und Findens - des Irrens und Wirrens - und Pablo Picasso drückt in seinen Worten aus, um welchen Mut es geht, den man braucht um seinen Lebensweg zu gehen, in dem man ihn sucht und findet und wieder sucht und wiederfindet.

Ich suche nicht - ich finde.

Ich suche nicht - ich finde.
Suchen, das ist Ausgehen von alten Beständen
und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.
Finden, das ist das völlig Neue.
Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.
Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen,
die im Ungeborgenen sich geborgen wissen,
die in der Ungewißheit, der Führerlosigkeit geführt werden,
die sich vom Ziel ziehen lassen
und nicht selbst das Ziel bestimmen.
Pablo Picasso

Dienstag, 25. August 2009

Menschen verleihen Menschen Bedeutung

Sigrid und Wolfgang Garvelmann gehören zu meinem Beziehungsnetzwerk – vor vielen Jahren sind sie in meinem Leben aufgetaucht und seitdem gehören sie dazu.

Im Laufe des Lebens begegnet man ja einer Menge Menschen. Und es ist überhaupt kein Problem, immer wieder Unbekannte, noch nicht Gekannte zu treffen. Meistens ist es eine „sachliche“ Frage oder „konkrete“ Aussage, die ein Gespräch zwischen Menschen beginnen lässt. Und ob sie einander wiedertreffen, hängt gemeinhin davon ab, ob Sympathie entsteht, Neugier, ob ein Funke überspringt – oder auch ein Rätsel sichtbar wird, eine Frage entsteht oder ein Vorhaben zu ergreifen ist – was dann zum Anlass wird, einander tiefer in die Augen zu schauen. Es bleibt aber ein Mysterium, wer wann wen trifft – und etwas daraus macht.

Sigrid und Wolfgang Garvelmann habe ich auf einem Autobahnparkplatz kennengelernt. Wir waren verabredet – obwohl wir uns nicht kannten, denn wir sollten zusammen zu einem bestimmten Treffen fahren. Unsere erste Begegnung stand also im Lichte einer langen Autofahrt über Deutschlands Autobahnen.

Auf dieser Reise erfuhr ich, dass Sigrid und Wolfgang Garvelmann gemeinsam ein heilpädagogisches Heim für seelenpflegebedürftige Kinder in Gaienhofen-Horn am Bodensee gegründet und es fast vierzig Jahre geführt haben. Wolfgang ist ursprünglich Arzt, Sigrid Säuglingskrankenschwester und Heilpädagogin. Sie hat bei Margarethe Wilke in Eckwälden „gelernt“ und dann bei Bernard Lievegoed im Zonnehuis in Holland gearbeitet, bevor das Haus Höri am Bodensee seine Arbeit aufnahm. Sie war, mit ihren sechs eigenen Kindern, die „Seele“ der heilpädagogischen Einrichtung. Wie sie mir nachdrücklich versichert, waren die seelenpflegebedürftigen Kinder die Lehrmeister ihres Lebensweges.

Sigrid und Wolfgang haben ihr Leben ganz und gar der Heilpädagogik gewidmet. Und da sie konträre Fähigkeiten und Charaktere mit in Ehe und Arbeit gebracht haben, Sigrid die „Praktikerin“ und Wolfgang der „Theoretiker“, bildeten sie eine erfüllende Ergänzung zueinander – wie sie mir schmunzelnd und über sich selbst lachend immer wieder erzählten.

Als wir uns kennenlernten stand unser gemeinsames Interesse an einem Treffen von Seminarteilnehmern, die sich alle mit den Inhalten des letzten Buches von Bernard Lievegoed „Über die Rettung der Seele“ beschäftigt hatten, im Vordergrund. Obwohl wir uns also „fremd“ waren, entstand direkt eine Nähe, die von den gemeinsamen Fragen, Nöten und Bedürfnissen getragen war. Seitdem verbindet uns eine Freundschaft besonderer Art, denn altersmäßig trennen uns gut vierzig Jahre.

Über diese Freundschaft lässt sich einiges sagen: sie währt nun schon viele Jahre, ist durch unterschiedliche Phasen gegangen, hat einige Meinungsverschiedenheiten ausgehalten, schließt einige Themen und Bereiche aus, wird aber vor allem durch eine unglaublich große Herzlichkeit getragen, die es uns ermöglicht, an vielen Gebieten des jeweiligen Lebens teilzunehmen und uns zu unterstützen. Man könnte es auch so sagen: Wir haben Bedeutung füreinander bekommen.

Sigrid Garvelmann ist eine kleine energievolle Frau mit leuchtenden Augen und schlohweißen Haaren, die dankbar auf ihr Leben blickt und die Dinge – damals wie heute – nimmt, wie sie sind. Für Wolfgang Garvelmann steht die Anthroposophie im Vordergrund. Er hat in seinem Haus ein kleines Turmzimmer, in das er sich nächtelang zurückzieht, um über elektronische Wege mit Freunden und Gefährten wichtige Fragen zu bewegen.

Bei unserem letzten Treffen hat mir Wolfgang Garvelmann sein neues Buch geschenkt. Und ich habe es gelesen. Ich habe es gelesen, weil er es geschrieben hat, deshalb hat es mich interessiert. Nicht, weil es so direkt „mein Thema“ ist. Zu Wolfgang Garvelmanns Netzwerk gehört Judith von Halle. Sie bewegt in der anthroposophischen Bewegung die Gemüter. Wolfgang Garvelmann hat sich mit ihr als Person und mit dem, was sie über ihre Christuserlebnisse berichtet, intensiv beschäftigt. Und da sie selbst und das, was sie präsentiert, für ihn Bedeutung haben, hat er diese Bedeutung öffentlich gemacht. Mit der Publikation seines Buches stellt er Judith von Halle als Zeitgenossin ins Licht und bekräftigt die Bedeutung ihrer Wirksamkeit.

Obgleich er sich als Autor mit persönlichen Statements zurückhält, ist seine Bewunderung nicht zu verkennen. Und nicht nur die Begeisterung über die Tatsache, dass Judith von Halle „da“ ist, sondern auch über die Richtigkeit und Wichtigkeit ihrer Mitteilungen. Es ist auch nicht das erste Buch, das Wolfgang Garvelmann dem Thema Christus widmet.

Die Werte, Wahrheiten, Haltungen und Sichtweisen, die Wolfgang Garvelmann für richtig, wichtig und gut hält, bekommen in seinem Buch eine allgemeingültige Bedeutung – denn er hebt sie über sich selbst - und natürlich über Judith von Halle – hinaus. Zur Thematik des Buches kann ich keine dezidierte, fachkundige Stellung nehmen – denn auf diesem Feld kenne ich mich gar nicht aus. Schreiben kann ich aber, dass Wolfgang Garvelmann ein Buch geschrieben hat, das auf sachlicher Ebene von großem Wert ist, denn es nimmt dem Leser viel eigene und mühselige Recherche ab. Nebeneinander werden nämlich die Aussagen von Anna Katharina Emmerick, Therese Neumann und Judith von Halle gestellt, die alle tiefgreifende Christuserfahrungen haben und hatten. Wolfgang Garvelmann zitiert, kommentiert und bettet diese Erlebnisse in seine Erkenntnisse ein.

Menschen verleihen Gedanken, Ideen und Überzeugungen Bedeutung.


Wolfgang Garvelmann: Sie sehen Christus. Anna Katharina Emmerick, Therese Neumann, Judith von Halle. Erlebnisberichte von der Passion und der Auferstehung Christi. Eine Konkordanz. Verlag am Goetheanum, Dornach/Schweiz, 2008.

Wolfgang Garvelmann: Ich bin bei euch. Christuserfahrung heute. Zeugnisse und Wege christlicher Offenbarung, Mystik und esoterische Schulung. Verlag Die Pforte im Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz, 1994.

Siehe auch im Internet: http://home.tiscalinet.ch/wolfgang.garvelmann

Montag, 17. August 2009

Verwandtschaft und Freundschaft – Bezug haben und Bezug nehmen

Heute bin ich mit der Frage erwacht, wie sich eigentlich Freundschaft und Verwandtschaft zueinander verhalten. Und während ich vor meinem Laptop sitze und beginne mir darüber Gedanken zu machen, schaut und lächelt mich Christine Ballivet von einem Foto aus an.

Ich denke: Jeder Mensch nimmt bei seiner Geburt einen Platz in einem Kaleidoskop von Beziehungen, zunächst rein verwandtschaftlicher Art, ein. Zu den verwandtschaftlichen gesellen sich im Laufe des Lebens auch freundschaftliche Verbindungen. In ihrer Bedeutung unterscheiden sich diese beiden Formen der zwischenmenschlichen Bezogenheiten - gibt es Kriterien, die den Unterschied zwischen Freundschaft und Verwandtschaft deutlich machen, und welche sind es?

Zu Beginn des Lebens stehen die verwandtschaftlichen Fakten eindeutig im Vordergrund. Jeder hat - normalerweise - Mutter und Vater, möglicherweise Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und so weiter. Die erste Feststellung betrifft also Tatsachen, die durch die Gegebenheit der physischen Geburt entstehen und auch festliegen. Das verwandtschaftliche Netz kann im Leben natürlich wachsen – oder auch schrumpfen – die spezielle Positionierung des Einzelnen bleibt aber definitiv und unumstößlich. Eine Mutter bleibt immer eine Mutter. Lebenslänglich.

Und ich denke weiter: Wenn ich mir das Netz anschaue, in dem ich lebe, dann wird sichtbar, wie viele verschiedene Rollen darin für mich Platz haben. Ich kann zum Beispiel gleichzeitig Mutter, Tochter, Schwester, Tante u.a.m. sein. Festhalten lässt sich, dass das verwandtschaftliche Netz meist vielschichtig ist, jedoch starr bleibt. Die Positionen zueinander sagen per se nichts darüber aus, welcher inneren Art die Verbindung ist. Fest liegt lediglich, dass eine Verwandtschaft vorliegt, wie die Beziehung aber gelebt wird, wie das emotionale Verhältnis untereinander ist, wird damit nicht gesagt. Das letzte Jahrhundert hat deutlich gemacht, dass die verwandtschaftlichen Bande nicht mehr so tragfähig sind wie sie es mal waren. Darum werden Freundschaften immer wichtiger. „Zählen“ gute Freunde also mehr als Verwandte?

Selbstgewählte Freundschaften haben einen anderen Duktus als gegebene Verwandtschaftsverhältnisse. Sie entstehen und entwickeln sich im Laufe des Lebens und spielen im Beziehungsnetzwerk vieler Menschen heute eine große Rolle. Freundschaften bauen wir schon als kleine Kinder auf, in der Schule, das ganze Erwachsenenleben hindurch und auch im Alter. Freundschaften können in jedem Alter begonnen werden – und auch enden. Sie sind fragil.

Und ich mache mir klar, dass es sehr unterschiedliche Arten von Freundschaften gibt, was sich schon durch die jeweilige Bezeichnung zeigt: da gibt es Arbeits-, Kindheits-, Frauen- oder Männerfreundschaften – um nur einige zu nennen -, enge und weitläufige Freundschaften, zufällige und innige Freundschaften, aktuelle und veraltete, kurzzeitige und jahrzehntewährende – hier ist jegliche Art der Nähe oder Ferne, der Bedeutung oder Zufälligkeit und des Zwecks möglich.

Freundschaften lassen sich also weder so exakt wie Verwandtschaftsverhältnisse definieren, noch sind sie unumstößlich. Einen interessanten Umstand finde ich, dass wir uns die Frage stellen können, ob wir Freunde waren, sind oder es werden wollen. Diese Frage lässt sich in Bezug auf Verwandtschaft nicht stellen. Der Unterschied zwischen Freundschaft und Verwandtschaft hat in erster Linie mit der Beständigkeit der Begriffe zu tun. Eine Freundschaft lebt aus dem freien Willen der Beteiligten. Sympathie, Wertschätzung und Zuneigung spielen dabei eine Rolle. Freundschaften werden „gewollt“ und müssen bewusst gepflegt werden – gerade daraus kann eine Verbindlichkeit entstehen, die über Verwandtschaft hinausgeht.

Verwandtschaft entsteht aus anderen Gründen als Freundschaft und bleibt in ihren Strukturen statisch. Ganz abgesehen davon, in welcher inneren Beziehung die Beteiligten zueinander stehen. Die Gestaltung der Beziehung, sowohl auf verwandtschaftlicher als auch auf freundschaftlicher Ebene, obliegt aber immer den Beteiligten. Gestaltbar ist jede Art der Verbindung zwischen Menschen. Aus Verwandten können Freunde werden und aus Freunden (angeheiratete) Verwandte.

In unserem emotionalen Leben kann die Bedeutung von Verwandtschaft und Freundschaft eine ähnliche Rolle spielen, muss aber nicht. Wie schon gesagt, impliziert eine Freundschaft mitunter deutlicher Wärme, Interesse und Zugewandtheit. In der Zuweisung des Freundesbegriffes schwingt die emotionale Bindung mit. Ein Freund bleibt aber nicht unbedingt ein Freund – obwohl die Zeit oft dazu beiträgt. Feindschaft kann sowohl unter Freunden als auch unter Verwandten entstehen. Der Unterschied der Folge davon ist, dass eine Freundschaft daran zerbricht – die Verwandtschaft aber nicht.

Und nun frage ich mich, ob der Unterschied zwischen Verwandtschaft und Freundschaft also der ist, dass das erstgenannte eine unumstößliche, allerdings „nur“ lebenslängliche und manchmal auch bedeutungslose Tatsache ist, während das zweitgenannte zukunftsträchtig und bedeutungsvoll ist, immer wieder gepflegt, erneuert, errungen und lebendig gehalten werden kann – und das auch über den Tod hinaus?

Christine Ballivet „war“ eine Freundin von mir. Wir haben uns gekannt und gemocht, haben zusammen gearbeitet und gelacht. Nicht, dass wir uns gestritten hätten, oder dass die Freundschaft zerbrochen wäre, nein, es gibt einen anderen Grund warum ich die Vergangenheitsform gewählt habe und mich gleichzeitig frage, ob diese Formulierung so stimmt. Christine lebt nicht mehr, sie ist vor ein paar Monaten gestorben. „Ist“ sie dann eine Freundin, oder „war“ sie eine? Fast mutet es ja an, als ob sie durch ihren Tod von der freundschafts- auf die verbindliche Ebene der Verwandtschaft gewechselt ist. Denn, ich fühle nichts anderes als dass sie eine Freundin ist. Und immer bleiben wird.

Die Gefährtin auf dem irdischen Plan ist in die geistige Welt eingegangen - gibt es auch das, eine Freundschaft zwischen Lebenden und Toten?

Montag, 10. August 2009

Stimmen des Doppelgängers

Seit Tagen will ich einen Text über das Thema „Doppelgänger“ schreiben. Ich komme aber – so würde man es im Ruhrgebiet nennen – einfach nicht in die Pötte. Die Zeit vergeht, es passiert nichts, ich bin wie gelähmt und beginne schon, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es diese Woche keinen Blog-Text gibt… Wer oder was versucht mich davon abzuhalten diesen Text zu schreiben, ist es die Wirkung meines Doppelgängers?

Die Vorstellung einen Doppelgänger zu haben, finde ich schon immer sehr unangenehm. Ich kann aber nicht verneinen, dass sich seine Existenz, sowohl bei mir selber als auch bei anderen, immer wieder deutlich bemerkbar macht. In der Psychologie, der Pädagogik, der Literatur und der Karmaarbeit ist das Phänomen bekannt und von vielerlei Autoren beschrieben worden.

Der Konfliktforscher Glasl beschreibt ihn so: Der Doppelgänger „ist die Wirkung meines Denkens, meines Fühlens, meines Wollens und meines Tuns, wann immer diese seelischen Tätigkeiten von meinem Selbst nicht durchdrungen und nicht geleitet worden sind. Wie mein Schatten begleitet und verfolgt mich mein Doppelgänger auf Schritt und Tritt und wird mir zur Last. Ich trage ihn wie eine Bürde auf meinem Rücken mit mir und kann mich schwer von ihm trennen.“ (Glasl, S. 35)

Die Seite in mir, die sich der Doppelgänger nennt, entsteht also ganz selbstverständlich im alltäglichen und sozialen Leben und gehört – auch über eine Inkarnation hinaus – fest zu mir. Unbewusstes, Unverarbeitetes, Traumatisches, Unabgeschlossenes und andere ungeklärte Situationen führen (laut Untersuchungen) dazu, dass ich Anteile in mir habe, die sich als Schatten zeigen. Dieser Gedanke erklärt, warum es so schwer ist, einen Doppelgänger los zu werden – aber, darum geht es ja vielleicht auch gar nicht.

Wenn ich mich auf die Existenz des Doppelgängers einlasse, dann kann ich seine Erscheinungsformen, sein Handeln und eben auch seine Wirkung auf mich beobachten, kann sie untersuchen. Wann tritt er auf? Wo? Oder auch, wodurch? Wie mischt er sich ein? Und was will er eigentlich?

Ein Doppelgänger hat meines Erachtens zwei Möglichkeiten, sich Gehör zu verschaffen: Entweder spricht er in mir – ist eine der vielen Stimmen, die sich in meinem Inneren zu Wort melden und oft gegensätzliche Vorhaben und Meinungen vertreten. So ist es mir in diesem Fall gegangen. Da gab es eine Stimme die gesagt hat: „Ach, schreib den Text doch später.“ Oder: „Was hast du überhaupt dazu zu sagen?“ Oder: „Darüber gibt es doch schon genügend Texte.“ Oder: „Überlege es dir morgen noch mal.“ Ich könnte diese Aufzählung weiterführen. Die Stimmen, die gegen diese Ansicht sprachen sind erst jetzt, seitdem ich tatsächlich schreibe, stärker geworden.

Der Psychologe und Kommunikationstrainer Friedeman Schulz von Thun nennt dieses Stimmen-Phänomen der inneren Pluralität, der gegenläufigen Strömungen oder schlicht der Stimmenvielfalt das „innere Team“ und er beschreibt in seinen Büchern sehr überzeugend, wie die Phänomene aussehen und vor allem, wie man damit umgehen kann. Denn, sie sind völlig normal.

Das ist die eine Möglichkeit, die innere, den eigenen Doppelgänger wahrzunehmen. Die andere ist dementsprechend die äußere. Durch unser eigenes Verhalten „provozieren“ wir unsere Umgebung – unsere Mitmenschen! – so, dass sie den Doppelgänger in uns herausfordern, angreifen, entlarven oder verletzen. Da gibt es Bemerkungen oder Verhaltensweisen, die bei genauer Betrachtung, nur an meinen Doppelgänger gerichtet sein können – oder vom Doppelgänger des anderen ausgesendet werden.

Neulich habe ich jemandem etwas erzählt und der schaute mich plötzlich an und sagte so ganz beiläufig, „deine Stimme hat in dieser Erzählung einen unangenehmen, inquisitorischen Klang“ und ich realisierte, dass mein Doppelgänger, der immer Recht haben will und der sowieso alles besser weiß, durch mich gesprochen hat. Nun kann ich über so einen Satz natürlich nonchalant hinweggehen – so, als wenn nichts gewesen wäre – oder ich halte inne und sortiere mich neu, denn, so wollte ich mich ja gar nicht zeigen. In diesem Fall bin ich zwar erschreckt über die Bemerkung, aber gleichfalls dankbar.

Eine weitere Möglichkeit, in meiner Alltags-Stimme mein höheres Ich von meinem niederen Ich zu unterscheiden ist, den Bemerkungen meiner Umgebung gut zuzuhören. Jeder Satz, den wir hören, hat vier Klänge, schwingt auf vier Ebenen. Schulz von Thun nennt es in seiner Darstellung das Vier-Ohren-Modell. Es geht um den Sachinhalt, (den ein Satz transportiert), die Selbstkundgabe, (die der Sprecher damit über sich macht), die Beziehung, (die der Sprechende und der Zuhörende in diesem Moment zueinander haben) und den Appell (den der Sprechende durch seine Mitteilung an den Zuhörenden richtet). Je mehr wir uns darin schulen diese vier Klänge voneinander zu unterscheiden, umso weniger wird ein Doppelgänger unbewusst durch uns sprechen – oder besser: krakeelen – können. Aber nicht nur, dass wir selber bewusster mit unserem eigenen Sprechen umgehen werden, sondern wir können auch die verschiedenen Botschaften unseres Gegenübers klarer differenzieren.

Mein eigenes „karmisches Unordnungs- oder Ausweichwesen“, so wie Coenraad van Houten den Doppelgänger nennt (S. 19), ist jetzt stiller geworden, weil es bemerkt, dass ich es – trotz allem - achte. Ich habe mich zwar über sein Anliegen hinweggesetzt, allerdings nicht mit einem theoretischen Text – so, wie mir das erst vorschwebte – sondern, durch das Beschreiben dessen, wie es mir mit meinem Doppelgänger konkret ergangen ist. Sein Wesen, das erlöst werden möchte, gesteht mir jetzt sogar mit leiser Stimme zu, dass ich ja vielleicht doch in der Lage bin, etwas über Doppelgänger zu schreiben.

Glasl, Friedrich: Konflikt Krise Katharsis und die Verwandlung des Doppelgängers. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2. Auflage 2008.

van Houten, Coenraad: Der dreigliedrige Weg des Schicksalslernens. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, 2003.

Schulz von Thun, Friedemann:
- Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen.
- Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung.
- Miteinander reden 3: Das „innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation.
Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg.

Montag, 3. August 2009

Das Buch als vertikaler und horizontaler Kulturträger

Bücher - und damit auch ihre Inhalte - gehören zu unserem Alltagsleben. Sie sind normale Gebrauchsgegenstände, die jeder von uns kennt. Ich nehme an, dass die Leser dieses Blogs alle relativ viele Bücher besitzen. Jeden Tag werden in Deutschland derzeit 800 neue Bücher publiziert – heißt es im Deutschlandfunk. Das sind, wenn man fünf Tage pro Woche veranschlagt, etwa 208 000 Bücher im Jahr. Neue (!) Bücher.

Rudolf Steiner sagte in einem Vortrag am 10.10.1913 in Bergen: "Bücher können in der geistigen Welt nicht gelesen werden. [...] erst dann, [...] wenn das, was in den Büchern steht, lebendiger Gedanke der Menschen wird, dann lesen die Geister in den Gedanken der Menschen." Was bedeutet diese Aussage für den lesenden Menschen? Wie hat sich das Buch entwickelt und warum sind Veröffentlichungen eigentlich so wichtig?

Die Geschichte des Buches, des geschriebenen Wortes - und damit der Bewusstseinsentwicklung der Menschen - ist lang. Bereits vor 5000 Jahren gab es in Ägypten beschriebene Papyrusrollen. Dann kam, zu Beginn des ersten Jahrhunderts, der Gebrauch von Schreibtafeln aus gespaltenem Holz, der sogenannte Codex dazu. Seit dem 14. Jahrhundert gibt es „Papier“. Wenig später hat sich in Europa der Buchdruck entwickelt. Neu ist jetzt, etwa seit dem Jahr 2000, dass sich auch der digitale Buchdruck verbreitet hat. Alle diese verschiedenen Ausprägungsformen des Buches beinhalten aber im Wesentlichen das gleiche: Schrift. Inhalte. Gedankliche Darstellungen. Text. Geschriebene Worte. Kurz: Schriftsprache.

In Europa hat seit dem 13. Jahrhundert, mit dem Aufblühen von städtischen Kulturen, die Schriftsprache ihren Aufschwung erfahren. Was zunächst nur dem Klerus oder Adel zugänglich war, wurde in die Volkssprache übersetzt und weiteren Teilen der Bevölkerung zugänglich. Schriftlich niedergelegte Texte - Bücher - bekamen immer mehr Bedeutung. Dieser Umstand war für die Verbreitung von Wissen nicht unerheblich. Reformation und Aufklärung haben davon gezehrt. Heutzutage ist es selbstverständlich, dass wir lesen und schreiben können, dass ein gedanklicher Austausch über das geschriebene Wort stattfindet, und vor allem, dass jeder, der das will, an dem entsprechenden Diskurs teilnehmen kann. Bücher gibt es zu kaufen und zu leihen. Wissen ist - über die schriftliche Form - allgemein zugänglich.

Geschriebenes verbreitet sich zum einen horizontal über die Erde. Das geschieht über soziale Netzwerke, öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Universitäten und andere Bildungsstätten sowie weitere Wege, die direkt über den Menschen laufen. Wichtig scheint mir aber auch der Blick auf die vertikale Ausdehnung zu sein. Das ist die andere Richtung, wie sich Schriftlichkeit – und damit Kultur – ausbreitet, weiterentwickelt und erhält. Der Mensch ist in seiner Gesamtheit - Körper, Seele und Geist - und in seiner Zeitlichkeit - etwa 80 Jahre - zwischen Himmel und Erde gestellt. Das, was wir Menschen in Büchern lesen, wird durch unser Menschsein auch der Ober- sowie der Unterwelt zur Verfügung gestellt. Die Wesen dort lesen keine gedruckten Buchstaben – aber sie lesen in unseren Herzen.

Bücher werden geschrieben, um „Inhalte“ zu verbreiten. Über ein Buch kann das, was ein Autor sagen möchte, in viele Hände, Herzen und Köpfe gelangen. Daraus kann ein stilles oder auch ein öffentliches Gespräch entstehen. Meinungen, Sichtweisen oder Einsichten können kundgetan werden. Geschichten können erzählt werden. Die Kunst des Wortes, der Sprache kann sich durch ein Buch in ihrer reinsten Form aussprechen. Sprache - egal in welcher Form und welchen Inhalts - schafft Kultur. Die Inhalte, die über das geschriebene Wort vermittelt werden, erreichen den Menschen dann, wenn er sie sich zu Eigen macht. Wenn er eigenständige Gedanken dazu entwickelt, sich selbstständig ein Urteil bildet und sich kreativ zu den Inhalten stellt.

Neben dem traditionellen Buch sprechen wir aber auch davon, dass sich Lebensgeschichten, kulturelle Ereignisse oder weltliche Geschehnisse in die Erde einschreiben. Die Erde - die Materie - als unauslöschliches „Buch“. Und zum anderen gibt es den Ausspruch, dass etwas ins „Buch des Lebens“ geschrieben wird – dies ist ein Hinweis auf den Himmel. Zur horizontalen Verbreitung von Geschriebenem, durch menschliche Netzwerke, kommt die vertikale Auseinandersetzung dazu. Es ist der Diskurs zwischen den Göttern, den Menschen und der Unterwelt. Es ist das, was Rudolf Steiner meint, wenn er so lapidar sagt: „Bücher können in der geistigen Welt nicht gelesen werden.“ Wir Menschen sind dazu aufgefordert, die Gedanken, die über ein Buch verbreitet werden, lebendig in uns zu tragen und den Göttern anzubieten. Sie mögen in unseren Herzen das lesen, was wir - unter Umständen - über Bücher erfahren und für wichtig, richtig und gut erachtet haben.

Am 27.7.2009 war der 100. Geburtstag der Dichterin Hilde Domin. Bei der Gedenkveranstaltung in der Stiftskirche in Tübingen, in der die Dichterin noch vor fünf Jahren selbst gelesen hat, wurden einige ihrer Gedichte vorgetragen. Das, was sie der Menschheit durch die Veröffentlichung ihrer Gedichte als Buch geschenkt hat, ist an diesem Abend durch die Herzen anderer Menschen der geistigen Welt angeboten worden.

Das Buch als geistiger Kulturträger – nicht nur in horizontaler Ausrichtung sondern auch in vertikaler.