Freitag, 3. Juli 2015

Die Sonne im Westen und der Mond im Osten. Das Geheimnis des Werdenden und Gewesenen


Die Geschäftigkeit des Tages weicht einer Stille, die sich zwischen den ratternden Rädern des Zuges in den Waggon der zweiten Klasse schiebt und dort königlich zu herrschen beginnt. Sie erfasst die Menschen, die sich in Reihen auf den blau karierten Sitzen nieder gelassen haben und bringt eine Ruhe in den knatternden, quietschenden und rumpelnden Waggon, der durch die frühen Abendstunden über eine Hochebene fährt und so tut, als wäre das normal.

Am hellblauen, wolkenlosen Vorabendhimmel zeigt sich im Osten der silbrig glänzende Vollmond. Zart aber deutlich bestimmt er das Firmament und mahnt an die Vergangenheit. „Hier bin ich!“ ruft er, „vergiß‘ deine Herkunft nicht!“ Ich schaue ihn an, ergebe mich und nehme die Konturen seiner Oberfläche in mich auf. Es seien Gebirge, sagt man auf der Erde, Krater, Rillen und Schrunden, die allesamt in zartem Gelb der Erde zuleuchten und in einer geheimnisvollen Sprache davon erzählen was war.

Auf der gegenüberliegenden Seite, im Westen, geht die Sonne unter. Die grüne Welt ist in ein sattes Goldgelb getaucht, das sich mit zarten Rose- und Pfirsichtönen vermählt. Sie raunt etwas von der Zukunft, die sie sei. Das Auge vermag nicht hinzuschauen, zu hell, zu grell, zu unerträglich. Siegessicher, dass sie am nächsten Morgen wiederkehren wird, verabschiedet sie sich blutend in den Abend, der in die Nacht übergehen wird und wispert unumwunden etwas vom Neuen und Unbekannten, dem, was wird.

Auf der einen Seite das Gewordene und Gewesene. Auf der anderen das Werdende und Kommende. Die Erde, als Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, bietet dem Menschen Platz und Weite für ein Leben in Raum und Zeit, das kaum etwas anderes als die Gegenwart kennt. Ein kleiner Blick nach oben oder unten, hinten oder vorne, links oder rechts ist das einzige, was der Mensch vermag, wenn er körperlich gebunden Schritte über die Erdoberfläche macht.

Der Mond geht auf und die Sonne geht unter. Und ich sitze im Zug und fahre zwischen den beiden über die Ebene. Es rattert und knattert. Von der einen Seite mahnt die Vergangenheit, von der anderen die Zukunft. Nicht umsonst war es den Menschen bislang nur möglich den Mond zu betreten, die Vergangenheit, und nicht die Sonne, die für die Zukunft steht. Die Zukunft ist unbekannt, neu, frisch und unberührt. Und sie nähert sich tagein und tagaus, um sich wieder und wieder zu verschenken und zu transformieren, erst in die Gegenwart und dann in die Vergangenheit, die wächst und gedeiht und immer ferner und tiefer und unübersehbarer in der Unendlichkeit wirkt.

Der Mensch ist in das Jetzt gestellt, er ist Tag und Nacht ausgesetzt, dem Wechsel anheimgegeben –Sonnenaufgang und -untergang drehen sich im Kreis und der Mond vollzieht seine eigene Bahn, sich versteckend, halbierend, sich zeigend und wieder verschwindend. Der Zug fährt geradeaus, von Norden nach Süden, zwischen den beiden hindurch, im Osten der Mond und im Westen die Sonne.

Ich weiß nicht wirklich was in ihnen steckt. Weder überblicke ich die Vergangenheit noch erahne ich die Zukunft so, dass ich Worte dafür fände. Ich spüre meine Müdigkeit, den Schmerz in meiner Schulter, meinen Durst und die Unruhe darüber, noch auf Reisen zu sein. Aber das erhabene Bild der beiden Himmelskörper zu meinen Seiten erreicht mich. Es macht mich verlegen. Und dankbar. Die Welt ist in ihren irdischen Erscheinungen nur geistig erfassbar und sehr geheimnisvoll. Aber unglaublich schön.

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