Montag, 29. Dezember 2014

Von Schätzen der Vergangenheit und Zukunftssternen: ein Inspirationsspaziergang ins Neue Jahr


Wollen wir das Weihnachtsfest christlich feiern,
so muss in uns selbst ein Hirte und König sein.

Ein Hirte, der horchen kann auf das, was andere nicht hören.
Der mit allen Kräften der Hingebung unmittelbar unter dem Sternenhimmel wohnt.
Zu dem es Engel gelüsten kann, sich zu offenbaren.

Und ein König, der schenken kann.
Der sich von nichts anderem leiten lässt als von dem Stern in der Höhe.
Der sich aufmacht, alle seine Gaben an einer Krippe darzubringen.

Aber außer dem Hirten und dem König muss auch ein Kind in uns sein,
das jetzt geboren werden will.

Friedrich Rittelmeyer

Hirte sein: Zwischen den Jahren überkreuzen sich Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart. Die Rückbesinnung auf das Fest der Geburt schafft im Strom der Zeit Weite und Breite, Höhe und Tiefe. Ein Festpunkt in den Tagen des Übergangs sind Erinnerungen (Vergangenheit), Gegebenheiten - irdischer und geistiger Natur (Gegenwart) und Vorhaben (Zukunft).

Erinnerungen, die als Schätze Steine oder Sterne in meiner Seele sind und die hervortreten, wenn es Zeit ist, sich ihrer zu erinnern, neue Kontexte zu schaffen oder Urteile umzudeuten. Es hat Erlebnisse und Begebenheiten gegeben, Momente, Träume, Erschütterungen. Ich bin der, der ich geworden bin durch das, was in mir liegt - auch durch das Vergessene.

Erinnerungen an Menschen kommen hoch, die nicht mehr da sind und deshalb gerade um so kräftiger in meiner Seele anwesend sind – die verlierbaren Lebenden und die unverlierbaren Toten (Hilde Domin) – sie klopfen in diesen Tagen an meine innere Tür, um sich bemerkbar zu machen und Grüße aus einer anderen Welt zu bringen. Das Vergangene kommt aus dem Schlund des Vergessenen über den Horizont erneut in mein Bewusstsein und zeigt sich mitunter in einem anderen Gewand.

Was ist geschehen?
Woran bin ich beteiligt gewesen?
Was habe ich gemacht – und, was habe ich unterlassen?
Wem bin ich begegnet, welche Ereignisse haben sich fortgesetzt, wo ist noch etwas offen geblieben?
Was habe ich so gewollt, wie es geworden ist und was gerade nicht?
Was habe ich verstanden und was ist mir fremd geblieben?

Die Vergangenheit loslassen und in der Gegenwart ankommen heißt, sich in das Spannungsfeld zu stellen, welches gewöhnlich das Hier und Jetzt genannt wird. Der gegenwärtige Moment, in dem sich jeder Einzelne von uns befindet, wird von vier Komponenten geleitet, zwei horizontalen und zwei vertikalen. Im horizontalen Zeitstrom ist es zum einen die Vergangenheit, die uns mit Erinnerungen beschenkt, wenn wir von Minute zu Minute weiter ziehen und aus dem, was gerade noch Zukunft genannt werden konnte unsere Vergangenheit kreieren und zum anderen ist es die Zukunft, die auf uns zukommt.

Leitsterne auf der vertikalen Ebene sind in der Gegenwart die geistigen Motive, die wir mitgebracht haben, als wir uns dem vorgeburtlichen Sein entwunden und uns in einen physischen Körper in Raum und Zeit gefügt haben. Die Motive, die uns in diese oder jene Richtung lenken, Evidenz- oder Fremdheitsgefühle wecken, stehen den physischen Notwendigkeiten auf der anderen Seite der vertikalen Linie gegenüber. Die Miete will bezahlt werden, das Autofahren fordert einen Führerschein, das Studium ein Abitur.

Wo stehe ich?
Wie geht es mir dabei?
Welche Prozesse wollen beachtet und bearbeitet werden?
Womit ringe ich?
Was nährt mich, macht mir Freude?
Wo liegen meine Fähigkeiten und was möchte ich lernen?

Auf der gegenüberliegenden Seite der Vergangenheit, auf dem horizontalen Zeitstrom, ruft uns die Zukunft samt unserer Vergangenheit, unseren Motiven und den irdischen Gegebenheiten ins Offene, Weite und noch Unbetretene. Dorthin, wo das Gewissen wohnt und uns immer wieder aufs Neue dazu einlädt der Spur unseres Lebens zu folgen und Schritte in den unbetretenen Schnee zu wagen. Die Zukunft singt und klingt, wenn wir den Sternen lauschen.

Ahnungen und Träumen darf Raum und Zeit gegeben werden, damit Entschlüsse verwirklicht werden können. Die Zukunft gebiert sich aus den Schnittpunkten zwischen mir und dir, zwischen Wünschen und Entschlüssen, zwischen dem Notwendigen und dem Neuen. Die Spuren die wir verfolgen werden einmal zu den Spuren, die wir hinterlassen.

Was habe ich vor?
Was will ich erreichen?
Wie will ich leben?
Wem will ich begegnen?
Womit will ich mich beschäftigen?
Auf welche Fragen will ich Antworten finden?

Ich lade meine Leserinnen und Leser dazu ein, am Silvesternachmittag einen Inspirationsspaziergang zu machen. Er dauert etwa eine Stunde und sollte im Kern allein gemacht werden. Trotzdem kann sich eine Gruppe bilden, die sich aber während des eigentlichen Spaziergangs aufsplittert. Es bietet sich an, dass man sich gemeinsam trifft und einstimmt, um dann für sich alleine etwa eine Stunde in der Natur zu sein und mit ihr Kontakt aufzunehmen.

Ein Drittel der Zeit wird dabei der Vergangenheit mit ihren Fragen gewidmet (wo komme ich her, was habe ich im vergehenden Jahr gemacht?), ein Drittel der Gegenwart (wo stehe ich, wie geht es mir?) und ein Drittel der Zukunft (wohin möchte ich, was nehme ich mir vor?).

Jeder stellt sich die für ihn relevanten Fragen in Bezug auf die drei Zeitebenen innerlich und lässt sich von der Natur inspirieren Anknüpfungspunkte und Antworten zu finden. Nach dem Spaziergang, der möglichst noch vor der Dunkelheit stattfinden soll, kann die Gruppe noch einmal zusammen kommen. Jeder, der mag, kann den anderen davon berichten, was er in Bezug auf seine persönliche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlebt hat und was er ins Neue Jahr mitnehmen möchte.

Ich wünsche allen ein glückliches und kreatives Neues Jahr und freue mich über Resonanz. Herzlich, Sophie Pannitschka

Sonntag, 21. Dezember 2014

Weihnachten: Horchen, schenken und ein Kind werden


Wollen wir das Weihnachtsfest christlich feiern,
so muss in uns selbst ein Hirte und König sein.

Ein Hirte, der horchen kann auf das, was andere nicht hören.
Der mit allen Kräften der Hingebung unmittelbar unter dem Sternenhimmel wohnt.
Zu dem es Engel gelüsten kann, sich zu offenbaren.

Und ein König, der schenken kann.
Der sich von nichts anderem leiten lässt als von dem Stern in der Höhe.
Der sich aufmacht, alle seine Gaben an einer Krippe darzubringen.

Aber außer dem Hirten und dem König muss auch ein Kind in uns sein,
das jetzt geboren werden will.

Friedrich Rittelmeyer

Kind sein: Erst in der Grundschulzeit bemerkte ich innerhalb der Gespräche mit Schulkameraden, dass das Weihnachten, das ich kannte, nicht das war, was die meisten meiner Freundinnen Jahr für Jahr feierten.

Bei uns wurde über die Angebote, die die Welt des Konsums alljährlich in der Weihnachtszeit darbot, gespottet. Säuselnde Lieder in Kaufhäusern wurden verhöhnt, Weihnachtsmärkte umgangen und jegliche Art der versuchten Besinnlichkeit abgelehnt. Bei uns gab es keinen Adventskranz, keinen Nikolaus, kein Christkind, keinen Weihnachtsmann. (Wohl aber ein Stück Schokolade.) Kirchen kannte ich als Relikte einer fernen Vergangenheit (das muss mindestens vor dem Krieg gewesen sein), einen Gottesdienst hatte ich noch nie miterlebt.

Alles was mit Religion zusammenhing gehörte nicht zu meinem Leben, das in meinem Umkreis gelebt wurde. Ostern waren wir meistens verreist – Ostereier suchen wurde als Spaß an der Freude nach Möglichkeit inszeniert. Die Bedeutung des „Festes“ aber verschwiegen. Weihnachten war das schon schwieriger. Das gesamte gesellschaftliche Leben, auch in der Schule, richtet sich wochenlang darauf hin. An den Weihnachtstagen konnte ich mich nicht mit Freundinnen verabreden – sie „feierten in ihren Familien Weihnachten“, was immer auch damit gemeint war.

Die Zeit um Weihnachten waren in meiner Kindheit verwirrende Tage. Weder kann ich mich an Gesang erinnern, noch kannte ich die Weihnachtsgeschichte richtig. Geschenke gab es aber. Zumindest die Großmütter unterließen es nicht zu schenken. Ich erinnere mich daran, dass einmal bei uns ein Weihnachtsbaum aufgestellt wurde, an den Würstchen gehängt wurden. Ein anderes Mal wurde am 24. Dezember mittags bei einem Weihnachtsbaumverkauf der Restbestand aufgekauft. Es waren vielleicht zehn kleine Bäume, die bei uns in der Wohnung aufgestellt wurden. Wir spielten im „Wald“ verstecken.

Abgesehen davon, dass in manchen Jahren das Fest übergangen wurde, gab es andere Jahre, in denen große Feste mit vielen Menschen gefeiert wurden. So richtig klar, deutlich und glücklich waren diese Tage nicht. Irgendwie musste auch jedes Jahr neu überlegt werden, wie es dieses Mal gehandhabt werden sollte. Und dann gab es einen Einschnitt.

Ich war vierzehn Jahre alt, als ich das erste Mal ein klassisch-traditionelles Weihnachtsfest erlebt habe – und war tief beeindruckt. Wir waren bei meiner Tante. Und fügten uns in ihr Vorgehen und ihre Rituale ein – ich wusste nicht wirklich, was auf mich zukam. Es wurde gekocht und geputzt. Alles wurde für den 24. nachmittags vorbereitet. Jeder hatte bestimmte Dinge zu erledigen. Zum Mittagessen gab es eine Suppe. Dann ging jeder in sein Zimmer. Zwei Stunden Ruhe – jeder für sich.

Zum Nachmittagskaffe - mit Bratäpfeln und Plätzchen - sollte sich jeder schön anziehen. Die Stimmung war erwartungsvoll, das Gespräch nahm eine andere Form als noch beim Mittagessen an. Witze zu machen war völlig undenkbar. Draußen wurde es dunkel, der Raum war nur mit Kerzen erleuchtet. Danach machten wir einen Spaziergang – der Wind pfiff uns um die Ohren. Als wir zurückkamen war es stockdunkel. Wir sammelten uns still in der Diele. Dort wurde gesungen. Weihnachtslieder. (Einige kannte ich aus der Schule.) Im Dunkeln.

Und dann läutete ein leises Glöckchen. Und die Tür zum Weihnachtszimmer öffnete sich. Dort stand ein geschmückter Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen. Das Christkind war mit einer Engelschar da gewesen. Es hatte Geschenke gebracht. Unter dem Weihnachtsbaum stand eine Krippe mit Maria und Josef. Die Hirten waren da, viele Schafe und Tiere, die heilige Familie im Stall und von Ferne waren schon die Könige unterwegs. Die Weihnachtsgeschichte wurde vorgelesen, wir wünschten uns alle gegenseitig frohe Weihnachten und sangen wieder. Stille und Gesang wechselten sich im Glanz des Kerzenlichtes ab.

Später gab es ein Weihnachtsabendessen. (Jedes Jahr gab es das traditionelle Weihnachtsessen.) Das Licht der Weihnachtsbaumkerzen spiegelte sich in meinen feuchten Augen. Der Weihnachtsstern, der dort oben in der Ferne des Nachthimmels leuchtete, erreichte mein Herz. An der Schwelle zur Jugend wurde ich wie neu geboren, war ein Kind geworden und erlebte ein Weihnachtsfest, wie es die Menschen auf Erden feiern können, um der göttlich-geistigen Welt nah zu sein.

Ich freue mich über Beiträge meiner Leserinnen und Leser!

Sonntag, 14. Dezember 2014

Von einem Bild, einem Schicksalsnetzwerk und der Kraft mit Geheimnissen umzugehen


Rezension
Michael Frensch: Seurats Geheimnis
Info3 Verlag

"Bücher können in der geistigen Welt nicht gelesen werden [...] erst dann, [...] wenn das, was in den Büchern steht, lebendiger Gedanke der Menschen wird, dann lesen die Geister in den Gedanken der Menschen."[1]

Bevor der Protagonist seinen eigenen Roman schreiben kann, muss sich der biographische Stoff, aus dem er gewebt und verknüpft wird, erst einmal durchs Leben schlagen, Wunden und Verletzungen produzieren und aushalten, obgleich sein Träger doch einfach ganz normal und irgendwie zu leben versucht hat... Nicht jeder Lebenslauf macht auf dem Hügel der Erkenntnis Halt, so dass sich die Sinnhaftigkeit und Weisheit des eigenen Weges offenbart – so aber nach 700 Seiten der Weg von Franz Sager.

Gemäß der postmodernen Mobilität im 21. Jahrhundert beginnt und endet der Roman „Seurats Geheimnis“ von Michael Frensch in einem Hotel – der Protagonist Dr. Franz Sager befindet sich auf der Île de la Grande Jatte in Frankreich und ist mit einem vermeintlichen Brücken-Bild des Pointilisten Georges Seurat beschäftigt, der es dort gegen Ende des 19. Jahrhunderts gemalt hat.

Franz Sager ist von der ersten bis zur letzten Seite damit beschäftigt die Herkunft und vor allen Dingen die Bedeutung des Bildes zu klären – das ist er seinem Freund Ernst Bergold, der in der Schweiz im Sterben liegt schuldig – viel Zeit hat er dafür nicht. Der Schlüsselbegriff für sein Handeln heißt Resonanz – dafür reist er nach München, Freiburg und Dornach, Paris und London sowie nach Wales, zieht Experten zu Rate und führt Gespräche mit Gefährten, die sich um das Bild scharen.

Er weiß, dass sich in dem Bild etwas versteckt hat, dass ein Geheimnis in ihm lebt und versucht ihm näher zu kommen, damit sein Freund in Frieden sterben kann. Dass das Bild aber nicht nur mit seinem Freund und dessen Frau, sondern auch mit seinem unmittelbaren Umkreis und vor allem ihm selbst zu tun hat, beginnt er unumwunden zu ahnen, als sich die Ereignisse aneinanderreihen. Gerade er selbst muss sich zerbrochenen Brücken in seinem Lebenslauf stellen, bevor er die verschwundene Brücke auf dem Bild Seurats zu deuten lernt.

Das Wort ‚Geheimnis‘ bedeutet ursprünglich ‚zum Haus gehörig, vertraut‘[2]. Gerade das ist es, was Franz Sager erfährt: die Geschichte des Bildes ist malerisch tief in dem Gemälde verborgen und ihm lebensgeschichtlich gleichzeitig nah und vertraut. Das Bild spricht in seiner eigenen Sprache zu ihm und offenbart sich zögerlich, intim und auf geheimnisvollen Wegen. Mit seinem Vorhaben geht es nicht nur vorwärts, sondern es vollziehen sich Rückschläge, bevor sich neue Perspektiven eröffnen - nicht ohne seine Bereitschaft, sich selbst in das Geschehen einzubeziehen.

Auf horizontaler Ebene sind es Menschen und Orte, die Franz Sager weiterhelfen, auf vertikaler Ebene sind es die Kommentare der Engel, die im Schicksal der Menschen ein Wörtchen mitzureden haben, selbst der längst verstorbene Seurat meldet sich in Franz Sagers Träumen – geht es doch darum Brücken zwischen verschiedenen Welten wahrzunehmen, sie zu bauen und auch über sie zu gehen, die „verlorene“ Brücke des 20. Jahrhunderts muss erst wiedergefunden werden, bevor ein Weg ins 21. Jahrhundert gebahnt werden kann.

Die Biographie eines Menschen ist zwar geheimnisvoll und unberechenbar aber nicht ohne Sinn und Motiv, wie schon Georg Simmel sagte: „Das Geheimnis – das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten – ist eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit.“[3] Michael Frensch zeigt in seinem Roman, das geistige Bezüge irdisch sichtbar und Geheimnisse sinnvoll werden, wenn man den Mut hat Zusammenhänge zu begreifen.

So verwundert es auch nicht, dass sich in dem gewaltigen und doch leicht zu lesenden Roman ganz unorthodox wissenschaftliche Fußnoten im Text finden, in denen der Autor bezeugt, dass er das künstlerische Werk Seurats professionell beherrscht. Wirklichkeit und Poesie treffen dort aufeinander, wo menschliche Herzen berührt werden. Auch wenn die Engel keine Bücher lesen können, so schreiben sie doch mit an den menschlichen Erzählungen über Höhen und Tiefen – in den Herzen der Menschen.

Ein Roman, der dazu einlädt, das eigene Leben zu nehmen wie es ist und gleichzeitig aufmerksam und taktvoll zu sein, wenn es darum geht, Bedeutungen und Bezüge zu ergründen. In einem vermeintlich unvollendeten und geheimnisvollen Bild, einer lebendigen Biographie, gibt es Schicksalszusammenhänge, die nicht immer offensichtlich auf dem Tisch liegen und doch sinnhaft sind. Die geistige und die irdische Welt treffen einander in der Seele des Menschen, Raum und Zeit überbrückend.

[1] Rudolf Steiner: Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, GA 140, im ersten Vortrag: Die Lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten“, 10.10.1913, Bergen.
[2] Duden 7 Etymologisches Wörterbuch.
[3] Georg Simmel: Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze. In: Aufsätze und Abhandlungen. 1901-1908. Band II. Hrsg. Von Allessandro Cavalli und Volkhard Krech. S. 317.