Sonntag, 14. Dezember 2014

Von einem Bild, einem Schicksalsnetzwerk und der Kraft mit Geheimnissen umzugehen


Rezension
Michael Frensch: Seurats Geheimnis
Info3 Verlag

"Bücher können in der geistigen Welt nicht gelesen werden [...] erst dann, [...] wenn das, was in den Büchern steht, lebendiger Gedanke der Menschen wird, dann lesen die Geister in den Gedanken der Menschen."[1]

Bevor der Protagonist seinen eigenen Roman schreiben kann, muss sich der biographische Stoff, aus dem er gewebt und verknüpft wird, erst einmal durchs Leben schlagen, Wunden und Verletzungen produzieren und aushalten, obgleich sein Träger doch einfach ganz normal und irgendwie zu leben versucht hat... Nicht jeder Lebenslauf macht auf dem Hügel der Erkenntnis Halt, so dass sich die Sinnhaftigkeit und Weisheit des eigenen Weges offenbart – so aber nach 700 Seiten der Weg von Franz Sager.

Gemäß der postmodernen Mobilität im 21. Jahrhundert beginnt und endet der Roman „Seurats Geheimnis“ von Michael Frensch in einem Hotel – der Protagonist Dr. Franz Sager befindet sich auf der Île de la Grande Jatte in Frankreich und ist mit einem vermeintlichen Brücken-Bild des Pointilisten Georges Seurat beschäftigt, der es dort gegen Ende des 19. Jahrhunderts gemalt hat.

Franz Sager ist von der ersten bis zur letzten Seite damit beschäftigt die Herkunft und vor allen Dingen die Bedeutung des Bildes zu klären – das ist er seinem Freund Ernst Bergold, der in der Schweiz im Sterben liegt schuldig – viel Zeit hat er dafür nicht. Der Schlüsselbegriff für sein Handeln heißt Resonanz – dafür reist er nach München, Freiburg und Dornach, Paris und London sowie nach Wales, zieht Experten zu Rate und führt Gespräche mit Gefährten, die sich um das Bild scharen.

Er weiß, dass sich in dem Bild etwas versteckt hat, dass ein Geheimnis in ihm lebt und versucht ihm näher zu kommen, damit sein Freund in Frieden sterben kann. Dass das Bild aber nicht nur mit seinem Freund und dessen Frau, sondern auch mit seinem unmittelbaren Umkreis und vor allem ihm selbst zu tun hat, beginnt er unumwunden zu ahnen, als sich die Ereignisse aneinanderreihen. Gerade er selbst muss sich zerbrochenen Brücken in seinem Lebenslauf stellen, bevor er die verschwundene Brücke auf dem Bild Seurats zu deuten lernt.

Das Wort ‚Geheimnis‘ bedeutet ursprünglich ‚zum Haus gehörig, vertraut‘[2]. Gerade das ist es, was Franz Sager erfährt: die Geschichte des Bildes ist malerisch tief in dem Gemälde verborgen und ihm lebensgeschichtlich gleichzeitig nah und vertraut. Das Bild spricht in seiner eigenen Sprache zu ihm und offenbart sich zögerlich, intim und auf geheimnisvollen Wegen. Mit seinem Vorhaben geht es nicht nur vorwärts, sondern es vollziehen sich Rückschläge, bevor sich neue Perspektiven eröffnen - nicht ohne seine Bereitschaft, sich selbst in das Geschehen einzubeziehen.

Auf horizontaler Ebene sind es Menschen und Orte, die Franz Sager weiterhelfen, auf vertikaler Ebene sind es die Kommentare der Engel, die im Schicksal der Menschen ein Wörtchen mitzureden haben, selbst der längst verstorbene Seurat meldet sich in Franz Sagers Träumen – geht es doch darum Brücken zwischen verschiedenen Welten wahrzunehmen, sie zu bauen und auch über sie zu gehen, die „verlorene“ Brücke des 20. Jahrhunderts muss erst wiedergefunden werden, bevor ein Weg ins 21. Jahrhundert gebahnt werden kann.

Die Biographie eines Menschen ist zwar geheimnisvoll und unberechenbar aber nicht ohne Sinn und Motiv, wie schon Georg Simmel sagte: „Das Geheimnis – das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten – ist eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit.“[3] Michael Frensch zeigt in seinem Roman, das geistige Bezüge irdisch sichtbar und Geheimnisse sinnvoll werden, wenn man den Mut hat Zusammenhänge zu begreifen.

So verwundert es auch nicht, dass sich in dem gewaltigen und doch leicht zu lesenden Roman ganz unorthodox wissenschaftliche Fußnoten im Text finden, in denen der Autor bezeugt, dass er das künstlerische Werk Seurats professionell beherrscht. Wirklichkeit und Poesie treffen dort aufeinander, wo menschliche Herzen berührt werden. Auch wenn die Engel keine Bücher lesen können, so schreiben sie doch mit an den menschlichen Erzählungen über Höhen und Tiefen – in den Herzen der Menschen.

Ein Roman, der dazu einlädt, das eigene Leben zu nehmen wie es ist und gleichzeitig aufmerksam und taktvoll zu sein, wenn es darum geht, Bedeutungen und Bezüge zu ergründen. In einem vermeintlich unvollendeten und geheimnisvollen Bild, einer lebendigen Biographie, gibt es Schicksalszusammenhänge, die nicht immer offensichtlich auf dem Tisch liegen und doch sinnhaft sind. Die geistige und die irdische Welt treffen einander in der Seele des Menschen, Raum und Zeit überbrückend.

[1] Rudolf Steiner: Okkulte Untersuchungen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, GA 140, im ersten Vortrag: Die Lebendige Wechselwirkung zwischen Lebenden und Toten“, 10.10.1913, Bergen.
[2] Duden 7 Etymologisches Wörterbuch.
[3] Georg Simmel: Das Geheimnis. Eine sozialpsychologische Skizze. In: Aufsätze und Abhandlungen. 1901-1908. Band II. Hrsg. Von Allessandro Cavalli und Volkhard Krech. S. 317.




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