Sonntag, 1. September 2013

Zurück. Im beengelten Raum


Als sie die Tür öffnete, sah sie es gleich: Es war viel zu tun, diverse Papierstapel warteten auf sie – unschuldig sahen sie aus. Und so blickte sie lieber aus dem Fenster und lies den Traum noch einmal Revue passieren. In aller Ruhe fand darin ein Aufstand statt, die Ziele lagen enthüllt auf dem Tisch, die richtungsweisende Stimme offenbarte sich durch Handzeichen und viele Menschen standen um den Brunnen, von dem etwas ausging – allemal ein Klang. Ihr Herz schlug gleichmäßig, allerdings etwas fester. Es war etwas daran, sie vernahm den verwirrenden Ruf wieder.

Als das Telefon klingelte, spürte sie den Riss. Den feinen Riss, der sie zu zerbrechen drohte, er verlief mitten durch ihr Herz. Irgendetwas in dem Ton des Klingelns und dem des Risses mussten miteinander korrespondieren. Gefahr schien nicht zu drohen, aber Aufmerksamkeit war geboten. Sie rüstete sich, prüfte, ob sie alles dabei hatte. Am wichtigsten waren die kleinen Dinge, mit denen sie die Verbindung zur Welt aufrecht erhalten könnte, wenn es denn nötig sei – so etwas hatte man damals noch nicht, der Fortschritt hatte also etwas gebracht. Sie war aufbruchsbereit. Wie fast immer.

Aber ihr Blick verlor sich in den Schäfchenwolken, die den Himmel zu umschlingen versuchten, rastete einen Moment in der Baumkrone und wurde dann von dem großen Strommasten angezogen, der sich schwarz und gewaltig gegen die Ferne abhob. Dort bewegte sich etwas. Wie ein Scherenschnitt sah es aus. Schwarze Linien, etwas sich Hebendes und Senkendes, Trag- und Abspannmasten, Freileitungen und Leiterseile. (Woher kannte sie die Fachausdrücke?) Und es bewegte sich noch mehr, Menschen. Dort oben. Wahrscheinlich Männer. Echte Helden. Ein bizarrer Ausschnitt.

Ihr Computer fuhr hoch. Es dauerte. Der Anruferin hatte sie weiterhelfen können. Immerhin. Sie machte sich eine Liste. Schloss die Augen. Und sie wusste, dass es dieses Mal kein schaler Text werden würde, sondern ein exotischer – mit Pfeffer, Kardamon und Ingwer versehen, denn die Sonne glühte noch in ihr. Sie war allein. Das wusste sie. Und irgendwie nahm sie das auch an. Sie war patent, wusste, wie mit einem Riss zu leben ist. Also setzte sie die Worte auf den Bildschirm. Die Zeit, sich handschriftlich zu äußern und einander postalisch etwas zuzusenden, schien endgültig vorbei zu sein – obwohl ein echter Brief doch so etwas Schönes war.

Als es klopfte war die Überraschung groß – Vorboten dessen, was kommen würde und Nachwehen dessen, was gewesen war verbeugten sich vor ihr. Fast schien es ihr, als könnte sie die Zeit sehen. Zeit, die im Kommen war, Zeit, die vergangen war und Zeit, die sich wie eine Spirale um sich selbst drehte: der Moment. Jeder Mensch hat sein Zeitkontingent, das vor ihm ausgebreitet liegt oder um seine Gestalt geschlungen ist. Und wenn sich Menschen begegnen, dann berühren die Rationen einander. Private Zeit gibt es nicht und doch ist das Erleben individuell, denn Quelle und Bestimmung schwingen ineinander. Individuum und Welt gehen auseinander hervor…

Die Schatten, die sich in Kindheit und Jugend leise und fast unmerklich aufeinander legen, bilden das Bett des Lebens, auf manchen lässt es sich weich schlafen, manche knistern wie Papier. Sie schließt das Fenster, fährt den Computer herunter, schaltet eine Anrufweiterleitung und verlässt den Raum. „Der Tau auf der Rose. Wer berührte sie vorher? Vor der Nacht.“ (Meret Oppenheim) Inmitten der Stunden des Tages nimmt die Liebe sie auf und tröstet den Moment – auch Strommasten passen in ein gerissenes Herz, wenn der Himmel blau ist und die Sonne glüht – ihr Zeitkontingent nimmt sie mit und verlässt den beengelten Raum.

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