Sonntag, 14. April 2013

Ein Stück Pappe, meine Großmutter und ich


Zum Abschied am Bahnhof in Dorpat begleiten sie nur die Mutter, das Kindermädchen und der Kofferjunge. Dagmar Schulz, mit ihrem nicht gerade riskanten Namen, spürt den frischen Wind, endlich ist es soweit. Der Wunsch war 1917 entstanden. Damals wurde sie einundzwanzig Jahre alt, das ist verbrieft und die Urkunden belegen es. Die Revolution brachte für Estland die Unabhängigkeit und damit war es wieder möglich, den Blick von Osten nach Westen zu richten. Der geliebte Zar hatte abgedankt, stattdessen wurden Stromkabel durch das Land verlegt.

Ich lebe seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Meine Stadt im Ruhrgebiet ist im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört worden. Auf dem Brachland der Trümmer wurde sie neu erbaut, nicht mehr als ihren Namen hat sie behalten. Schnell, hoch, funktional, überall Beton. Alles aus dem Boden gestampft. Der Blick aus der Küche meiner Kindheit fällt auf das ziegelrote Opelwerk. Ich kenne nichts anderes als arbeitende Menschen und Autobahnen.

Seit Generationen lebt die deutsche Familie im Baltikum. Nun fährt sie, die junge, neugierige und doch scheue Frau nach Berlin, in die Reichshauptstadt. Ihr Herz klopft mächtig, denn sie ist allein und die Fahrt weit. Sie will die Welt fotografisch einfangen, für sich erobern, so ist es den Unterlagen in der grünen Kiste zu entnehmen. Immer wieder stellt sie sich verwegene Aufnahmen von Frauen vor. Die Recherche ergibt, dass 1890 die „Photographische Lehranstalt des Lette-Vereins“ eröffnete. Sie war weltweit die erste Ausbildungsstätte im Bereich der Fotografie für Frauen. Und das in Berlin. Genau diese Schule ist der Ort ihres Begehrens.

Bei uns geht es beim Essen um Politik, den Umsturz der Gesellschaft und die Demo am nächsten Samstag. Auch mein Leben ist von einer gesellschaftlichen Erschütterung bestimmt, fünfzig Jahre nach der Oktoberrevolution, etwas westlicher und aus anderen Gründen. Alten Geschichten habe ich in meiner Kindheit ungläubig zugehört – es soll Zeiten gegeben haben, in denen „Deutsche“ in ganz Europa zuhause gewesen sein sollen. Es soll ein Land gegeben haben, in dem es im Sommer nachts kaum dunkel wurde, in dem es Birken gab und Blaubeeren… Zeiten, in denen die Menschen viele Sprachen beherrschten - mit dem Kindermädchen Estnisch, mit den Eltern Deutsch, in der Schule Russisch, mit dem Besuch Französisch… Meine Großmutter hat mir nicht alles erzählt.

Ihr Vater, obgleich selbst Fotograf, war entschieden gegen die Erfüllung ihres Berufswunsches, er will seine jüngste Tochter noch immer standesgemäß mit einem Deutschbalten in Estland verheiraten und hält nichts davon, dass Frauen überhaupt Berufe ergreifen. Er ordnet also an, dass die Tochter zunächst eine hauswirtschaftliche Ausbildung zu machen habe und zwingt sie mit väterlichem Gebot in die Knie. Hie und da darf sie in seinem Atelier helfen – aber nicht an den Apparaturen, sondern bei der Einrichtung der Requisiten. Dagmar Schulz erträgt es kaum.

Ich mache mich auf den Weg, um meinen Vorfahren nachzuspüren. Als Kriegsenkel suche ich Wurzeln – denn ich selbst kenne so etwas wie eine gewachsene Verlässlichkeit eines Ortes nicht. Heimat, was soll das sein? Menschen und Orte wechseln, nichts hat Bestand. Die Reise mit dem Zug führt weit in den Osten, die Anzahl der Birken vervielfacht sich. Es ist Sommer und ich träume durch das Land. Ich verstehe die Sprache nicht, sehe aber Klänge, höre Landschaften, fühle Vergangenes, rieche alte Geschichten und fahre über den sandigen Boden, der Blut aus dem Osten und dem Westen aufgenommen hat. Die grünen Ufer der Seen schweigen und laden grußlos zum Verweilen ein. Ich folge den Gleisen der Eisenbahn mit meinem Blick, denn die Ebene verbirgt ihre Geheimnisse nicht.

Das schöne Reh gibt allen Herren, die sie anlächeln, eine abschlägige Antwort. Äußerlich fügt sie sich in ihr Schicksal, innerlich lässt sie nicht davon ab und verfolgt ihren Plan. Sie wird einmal einen Hosenanzug tragen! Und dann, irgendwann, ist es soweit. Der Vater kann ihren Willen nicht brechen, aber auch nicht mit ansehen, dass sie einzuknicken droht, sie bekommt seinen Segen und macht sich auf den Weg, verabschiedet sich am Bahnhof. Sie reist aus der Vergangenheit heraus, meiner Zukunft entgegen.

Ich erreiche die Ostsee am nördlichen Zipfel des Landes. Als der Fischer in den Hafen zurückkehrt, verkauft er mir seine Beute. Viel zu viel, wie werde ich das alles am Feuer verarbeiten? Aber die Geste des Mannes ist groß und voller Herzlichkeit - wie kann ich sein Angebot abschlagen, zumal ich der Landessprache nicht mächtig bin? Ich befinde mich in einem neuen Kapitel meines Lebens. Am Dienstag wage ich mich in die erste Stadt. Zunächst nach Tallin, meine Großmutter hatte es immer Reval genannt. Die Altstadt nimmt mich an, ich füge mich ein, fühle mich irgendwie angenommen - in der Bernsteinstadt. Die Häuser um mich herum präsentieren alten Stolz. Es ist noch immer Sommer und ich trinke mein erstes Bier. Gerstenbier, in einem tönernen Krug. Da die Nächte kurz und die Tage lang sind, erliege ich dem offenen Himmel am Strand und gebe mich ihm hin.

Nach drei Jahren der Ausbildung, Dagmar Schulz hat das Leben in Berlin in vollen Zügen genossen, ist es soweit, die Absolventinnen dürfen ihre Abschlussfotografien, die prämiert werden sollen, vorbereiten. Dafür werden sie, samt ihrem Equipment, auf eine Reise geschickt. Noch immer müssen die Fotografien auf dicke Pappen aufgezogen werden und auf der Rückseite werden Name und Adresse des Ateliers in geschwungenen Lettern und graziös vermerkt.

In Tartu, meine Großmutter hatte immer von Dorpat gesprochen, steige ich aus dem Zug – in den sie einst einstieg – und gehe durch das hölzerne Bahnhofsgebäude. Ich wandere durch den Domberg-Park, bleibe am Kussberg stehen und gehe dann über die Engels-Brücke hinunter in die Stadt, direkt auf die Universität zu. Ich laufe über die alten Steine und denke verstummt daran, dass meine Vorfahren hier über Generationen gelebt haben - seltsam. Bekannt und unbekannt zugleich. Die deutschen Straßennamen sind verschwunden und auf den Schildern finden sich estnische Buchstabenkombinationen, die ich nicht auszusprechen vermag. Spuren sind nur vertikal zu finden, nicht horizontal. Ich erinnere mich: Durch den Hitler-Stalin-Pakt hatte die deutsche Bevölkerung 1939 das Land innerhalb von drei Tagen verlassen müssen. Nichts konnte mitgenommen werden, nur das eigene Leben und ein paar Papiere ließen sich retten, wenn man geschickt und schnell genug war. Meine Großmutter war damals dreiundvierzig Jahre alt, hatte das Atelier meines Urgroßvaters Carl Schulz längst übernommen und war für ihre Aufnahmen in den Metropolen der alten Zeit bekannt. Dieses Mal stieg sie auf Hitlers Geheiß in den Zug, widerwillig, und verließ ihre Heimat, ihr Leben, in das sie niemals zurückkehren würde. Sie fuhr bis Posen und ließ sich dort ein neues Haus samt Atelier zuteilen, in dem sie bis zur Kapitulation…

Dagmar Schulz weiß, wen sie fotografieren will. Sie kennt die junge Frau aus Wien nicht persönlich, in den Boulevardblättern klatscht man aber über sie, die „schöne Sarah“, die die Tollkühnheit besitzt, mit einem eigenen Auto durch Europa zu fahren, so jedenfalls erzählt man es in Berlin. Und ihr Glück will es, dass Sarah Rotblatter auf dem Weg von Warschau nach St. Petersburg auch in Dorpat vorbeikommen soll. Dagmar Schulz fährt wieder in die Heimat und bereitet ihre Apparate dafür vor, Außenaufnahmen zu machen. Sie wählt einen einzigartigen Ort, den es nur einmal in der kulturell so bedeutenden Kleinstadt Dorpat gibt: die Tankstelle. Dort wird sie der Schönheitskönigin auflauern und sie fotografieren.

Der Zweite Weltkrieg fegt auch über Estland, mittendrin wird meine Mutter geboren, Menschen kommen und gehen, nichts bleibt wie es war. Ich weiß davon durch den Geschichtsunterricht, bei uns erzählt man nicht so viel von früher. Erbstücke gibt es nicht, man kam mit leeren Händen. Das Haus meiner Familie in Dorpat war zerstört worden, das wusste ich. Ich suche also die Straße und vergleiche den alten deutschen Stadtplan mit dem neuen estnischen… Eine kleine Gedenktafel erinnert daran. Tatsächlich: an das Haus. Der Platz, auf dem das Holzhaus samt Atelier gestanden hatte, ist leer. Einfach leer. Und ich setze mich in den vergehenden Sonnenschein des Nachmittags und träume, wie es damals wohl war… Oder wie es wäre wenn… Es kommt mir wie eine unvollendete Geschichte vor. Ein bisschen traurig nehme ich Abschied von dem leeren Platz, mit leeren Händen, der einmal… ich schlendere die Straße herunter und komme an ein Antiquitätengeschäft. Ich trete ein, ein alter gutmütiger Herr aus dem letzten Jahrhundert nickt mir freundlich zu. Ich schaue mich um. Überlege, ob die Möbel, die dort stehen, wohl in dem Schulz’schen Haus gestanden haben mochten? Und ich entdecke eine Pappkiste mit Fotos.

Carl Schulz ist von dem Vorhaben seiner Tochter nicht gerade angetan, aber glücklich, sie wieder zu Hause zu haben. Hatte sie noch immer nicht verstanden, wie man seinem Namen Ehre macht? Schließlich hatte er noch vor wenigen Jahren den Zaren fotografiert. Carl Schulz ist ein konservativer Mann, der davon ausgeht, dass die Vergangenheit zurückkehrt. Letztendlich kann er sie aber nicht zurückhalten und gibt seiner Tochter schließlich die teuersten Papiere, auf denen sie ihre Aufnahmen an der Tankstelle in der Dunkelkammer ans Licht holt.

Verträumt schaue ich mir ein Foto nach dem anderen an. Grau-braune Bilder auf dicken Pappen mit allerlei Motiven… Schöne Frauen in altmodischen Kleidern und geschwungenen Hüten. Steife Herren mit ausdrucksstarken Schnäuzern, erschrockene Kinder mit glattgelegten Frisuren… Und dann bekomme ich ein ungewöhnliches Bild in die Hand: Eine junge Frau in einem alten Cabriolet, mit stolzer Miene und erhobenem Busen – an einer Tankstelle. Und ich wende die Fotopappe und lese: Abschlussfoto von Dagmar Schulz, 1928, Lette-Verein Berlin. Atelier Carl Schulz, Gartenstraße 3, Dorpat, Estland.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen