Ich nenne ihn Mural. Und er hat einen blinden Fleck auf seinem Herzen. Diese stille Stelle, mit der er nichts sehen oder fühlen kann, ja, die er weder sieht noch fühlt, und die sich kaum begreifen lässt, da sie etwas ist, was gerade nicht ist, hat er schon sein Leben lang. Manchmal versteckt sich dieses kahle Etwas in den Falten seines Lebens und wird zu einem Raum, der unerkundbar ist. Und manchmal liegt es bloß und eben wie eine flache Insel im Meer an der Oberfläche der Grenze zwischen Licht und Luft.
Mural lebt in der Gegenwärtigkeit des Zeitstroms. Er ist weder von der Zukunft noch von der Vergangenheit besessen, wohl aber blickt er mit seinen kleinen Augen weit in zeitliche Fernen, unergründliche Tiefen und über den Rand der irdischen Grenzen hinaus. Der Fleck in seinem Herzen hält ihn im Jetzt und die Kräfte der Zeitlichkeit, die nach vorne und hinten, oben und unten schweifen, tragen ihn durch die verschlungenen Straßen des Lebens.
Manchmal erzählen andere Mural davon, wie der Fleck aussieht, denn nach außen ist er denen sichtbar, die nach innen schauen. Sie versuchen leise etwas davon zu flüstern, von seinem Geruch und seinen Bewegungen zu erzählen. Aber in Mural entsteht kein Bild - was er braucht, in so einem Moment, ist eine Rose, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Er kennt weder Eifersucht noch Neid. Er ruht in sich, ganz allein – manchmal umwoben von dem unsichtbaren Nichts, das das Zentrum seines Seins ausmacht, die Säule zwischen Ober- und Unterwelt bildet. Mural kennt es nicht anders, als ein Herz zu haben, das eine freie Fläche hat.
Einst wölbte sich sein Herz, wollte sich selber umstülpen und verdrehen – um zu sehen, was nicht zu erahnen ist. Es wollte sich neu gebären, um eins zu werden mit sich selbst, um die nackte Stelle zu verwandeln, sie anzukleiden und ihr einen Namen zu geben. Und fast hätte dieses Umbauvorhaben seinem Herzen das Klopfen und Pochen versagt. Nun aber lebt er mit dem Unbekannten weiter in seiner Mitte – und es ist wahr und gut.
Mural ist auf sich gestellt. Immer ist er da, wo er ist. Er spürt die Mitte seiner Welt. Die Fäden des Lebens laufen in seinem Herzen zusammen, aber nicht alle Enden behält er im Blick. Gerne reagiert er auf das, was auf ihn zukommt. Doch manchmal trennt er sich von der Schönheit des Schmerzes und fällt auseinander. Dann braucht er stützende Hände, warme Worte, eine Geste des Lichts. Mural kann traurig und unerreichbar sein.
Das Zentrum des Auseinanderfallens ist der blinde Fleck in seinem Herzen, wenn ein Pfeil diesen Punkt trifft, dann vibriert sein Herz, dann erwacht der Schmerz, dann weiß er nicht mehr, was er nicht sieht. Seine leuchtenden Augen blicken verwirrt in die Ferne. Und es öffnet sich der Abgrund, in den nur er fallen kann – denn die Welt bekommt es noch nicht einmal mit. Das Leben zwischen Geburt und Tod ist brüchig.
Mural ist ein weise und er hat zu schweigen gelernt. Seine Tränen finden fast nie den Weg in die Sonne, sondern sie benetzen den leeren Fleck in seinem Herzen. Ja, er lebt von den ungeweinten Tränen, die das Tor zur Welt nicht kennen, sondern nur das zu seinem Innern. Glaube, Liebe und Hoffnung tragen ihn – mit diesen Flügeln überfliegt er steiniges Brachland.
Und dann füllt sich die ebene Fläche, auf der kein Gras wächst, mit dem silbrigen Naß, von dem er nichts weiß. Er trägt sie dann, die glänzenden Tropfen, fühlt die Schwere der Leichtigkeit, kennt aber die Quelle der Last nicht. Stärke und Schwäche, Humor und tiefer Ernst durchdringen ihn mit seiner leeren Stelle auf seinem Herzen – er macht sich keine Vorstellung davon, sondern lebt vom Tag in die Nacht und wieder hinaus.
Mural ist den Menschen gerade in der Ferne nah. Er übergibt sich dem Geist der Zeit. Worte sind es, die ihm zu Gebote stehen, Verständnis, Einsicht und Weite. Und es sind Gedanken und Zusammenhänge, die ihn nicht davon abbringen, an die Morgendämmerung zu glauben, die sich zwischen den Menschen erhebt, wenn sie einander – auch mit kahlen Stellen im Herzen und anderen Eigenheiten – aufrichtig begegnen. Dann kümmert sich Mural um den Kummer der anderen.
Sophie,
AntwortenLöschentief greifende Worte.
Worte die meine Seele widerspiegeln.
Ich wünsche dir gesegnete Osterfeiertage
Ursula
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