Heute kennt die akademische Welt dich (darf ich du sagen?), dein Name ist in aller Munde. In der studierten Welt bist du nach deinem frühen Tod zu neuem Leben erwacht und hast dich entblättert. An dir scheiden sich die Geister. Ja, du bist nicht unumstritten. Denn du bist nicht eindeutig einzuordnen, weder der Disziplin noch deiner Aussagen nach. Dein freier Geist fasziniert die Einen, verunsichert die Anderen. Sowohl in der Literaturwissenschaft, in der Philosophie, der Soziologie, der Geschichte, der Kunst… überall hast du Spuren hinterlassen, die weiterführen. Eine Begegnung mit dir ist schwerlich zu vermeiden.
Zu Lebzeiten war es dir nicht vergönnt (auratisch) zu strahlen. Sondern ganz im Gegenteil, es sieht so aus, als ob du vom Pech verfolgt gewesen seist. Heimatlos, umherirrend, deinen Platz nicht findend… Das Berlin deiner Zeit bot alles und nichts. Eigenwillig warst du, von Stimmungen wurdest du geleitet, aber geschrieben hast du vielseitig und eigenständig gedacht. Ja, einen echten Denker kann man dich getrost nennen. Deine Doktorarbeit wurde angenommen, nicht jedoch deine Habilitationsschrift. So wurde dir die akademische Laufbahn vorenthalten, aber du hast weiter gemacht, deinen Ort, dein Wirkungsfeld gesucht. Vor den Nazis bist du geflohen, nach Paris emigriert, hast dort das Passagen-Werk begonnen…
Ja, die überdachten Passagen von Paris, sie entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts am Ufer der Seine. Die Arkaden, die Fensterbögen und die ägyptischen Motive lassen darauf schließen, dass die Vorbilder dieser „Regenschirme der Armen“, wie du sie nanntest, die überdachten Basare des Orients waren. Geschützt vor Wind und Wetter, der Unwirtlichkeit der Straßen und der Pferdefuhrwerke konnten die Händler dort überdacht ihre Waren feil bieten und die Damen der höheren Gesellschaft in aller Ruhe, fernab des aufwühlenden Straßenbetriebs, flanieren. Ja, flanieren… dein Freund Franz Hessel, der Flaneur aus Berlin, hatte dir voran das Leben in Paris erkundet und es für lebenswert erachtet.
Erst vor wenigen Tagen ist der letzte Zeuge deines Lebens verstorben, Stephane Hessel (Sohn deines Freundes Franz Hessel), der große Diplomat, der die Wirrnisse des Zweiten Weltkriegs überstanden, sein Schicksal in die Hand genommen hat und bis zuletzt unermüdlich tätig war. Für die Menschlichkeit, ja, die Menschenrechte, für Gerechtigkeit und Frieden, für Lebensentwürfe, die nicht ausschließen, sondern integrieren und wertschätzen – auch, wenn sie fremd sind. Ihr habt euch noch getroffen, damals, in Marseille, wenige Tage vor deinem Tod – das erzählt Stephane Hessel in einem Film über dich und sein Gesicht erscheint dabei in einem Glanz.
Du hast den Begriff der Aura geprägt, hast ihn auf das Kunstwerk bezogen, hast beschrieben, was das Ereignis einer individuellen ästhetischen Erfahrung eines Kunstwerks ausmacht. Du hast die Aura „als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ definiert und ihr die Kennzeichen „Unnahbarkeit, Echtheit und Einmaligkeit“ zugesprochen. Faszinierende, enigmatische Worte.
Du hast Fragmente des unvollendeten Passagen-Werks hinterlassen, an dem du die letzten dreizehn Jahre bis zu deinem Tod gearbeitet hast. Darin findet sich eine Aufzeichnung, in der der Begriff der „Aura“ neben den Begriff der „Spur“ gestellt wird. Obgleich dein Engel der Geschichte (Angelus Novus von Paul Klee) nach hinten schaut, der Vergangenheit zugewendet ist, ist es nun die Aura, die das Ereignis der Gegenwärtigkeit beschreibt und die Spur ist das Vehikel, das uns in die Zukunft führt und uns zu dem macht, der wir sind.
In die Geschichte schauen und die Aura auf den Spuren deines Lebens entdecken, die bis in die Gegenwart, ja in die Zukunft reichen… das hast du uns hinterlassen und gleichzeitig in Aussicht gestellt. Darum bist du lebendiger denn je – unnahbar, einmalig und echt – ob es nun ein verzweifelter Suizid oder kaltblütiger Mord war, damals, 1940, in dem kleinen Hotel in Portbou.
Die Dinge gross sehen ! Ja, dass muss man nie vergessen. Doch gibt es Momente wenn es eng wird und mit Enge kommt Zweifel. Vielen Dank liebe Sophie für deine bewegende Geschichte. Der Frühling ist angemeldet, Ostern auch mit seine Auferstehung Kräfte. Da können Dinge nur gross sein auch wenn die Zeit einen andere Rythmus verlangt. Manchmal will das Leben uns zeigen dass wir das Unmögiche träumen müssen um es zu verwirklichen. Ist das unmögliche so unmöglich ?
AntwortenLöschenJosiane
Deine Worte haben mich tief berührt liebe Sophie, Danke - in Verbundenheit mit Dir und Shirley !
AntwortenLöschenHerzliche Grüsse an Euch Beide
Hanspeter
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AntwortenLöschenHallo Sofie,
AntwortenLöschendeine Worte greifen tief.
Dinge „GROSS“ sehen das ist oft sehr, sehr schwer.
Doch die Hoffnung und der Glaube dürfen nie verloren gehen.
In einem Lied, das wir im Chor singen heißt es:
„Wenn Du denkst, Du bist verlassen
Und kein Weg führt aus der Nacht
Fängst Du an, die Welt zu hassen
Die nur and're glücklich macht
Doch vergiss nicht, an dem Zweig dort
Der im Schnee beinah' erfror
Blüht im Frühjahr eine Rose
So schön wie nie zuvor“
Grüße Ursula
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AntwortenLöschenDie Dinge groß sehen.
AntwortenLöschenMeine Augen tanzen beim Lesen über den Bildschirm und dennoch: sie bewegen sich kaum. Die Bewegung entsteht in mir, in meinem Körper drängen Bilder und Gefühle so wie Gedanken, Geräusche und Gerüche ins Bewusstsein. Sanft, ohne Zwang und dennoch ziemlich greifbar. Es Entsteht nun eine Plastik aus dem Text und mir. Ich mitten drin in der Erfahrung und Benjamin geleitet mich dort hin. Nein, es ist doch nicht Benjamin. Es ist das Ganze. Ein Mensch wie er, lebt weiter im Betrachter. Jetzt widmet Sophie einem Menschen Worte, der mehr als "nur" sein eigen Leben lebte. Und sie zeigt damit auf, dass GROSS ZU SEHEN wohl sehr persönlich ist und dennoch möglich. Wenn wir gemeinsam unser "Augenlicht" verwenden und dann zur Sprache bringen, was mit uns geschieht. Du hast für mich den Raum geöffnet, in dem ich Dich durch Benjamin und Benjamin durch Dich erkennen kann - im Anklang dessen, was in Mir entstand.
Vielen Danke für diese Kunst des Schreibens.
Liebe Sophie, endlich mal wieder von unserem alten Freund Walter Benjamin zu hören ist eine Labsal für meine Seele - schön, dass du immer wieder Kontakt aufnimmst zu ihm und seinem Werk. L.G. Elfriede
AntwortenLöschenLiebe Sophie,
AntwortenLöschenwenn ich mal nicht da bin, dann melde dich eine zeitlang nicht, dann lese ich deine blogs.
Der Text über Walter Benjamins Werk hat mich berührt und vielleicht finde ich hier in der Biblio ein Werk von ihm.
Danke, K.