Samstag, 26. Mai 2012

Das Seelen-Flügel-Loch von Semai


Ich nenne sie Semai. Und sie hat ein Loch in ihrer Seele. Dieses Loch, diese leere Stelle, diese Aussparung, ja diese Umhüllung von einem Nichts hat sie bei ihrer Geburt schon mit ins Leben gebracht. Sie kennt es gar nicht anders, als mit diesem Loch in einem ihrer Seelenflügel zu leben. Es muss von einer Verletzung herrühren die weit zurückliegt und sich immateriell materialisiert hat.

Dieses Loch ist da. Es bleibt, es ist beständig. Und sie trägt es von Tag zu Tag durch ihr Leben. Es gehört zu ihr, ja manchmal macht es sie aus, dann ist sie nur Seelen-Flügel-Loch. Lange dachte sie, dass jeder so ein Loch hätte, dass es normal sei, dass Löcher in Seelenflügeln dazugehören... Aber im Laufe der Jahre hat sie verstanden, dass das nicht so ist. Es gibt Menschen, die glatte, geschlossene Seelenflügel haben, deren Federn fest und leicht miteinander harmonieren und durch ihr Gewebe Schutz gebieten.

Es gibt Tage, an denen das Loch in Semais Seelenflügeln klar umrissene Ränder hat, die fest vernarbt sind und einen widerstandsfähigen Saum bilden. Dann kann sie das Loch als Freiraum, als Fernrohr nutzen. Sie kann direkt aus ihrem Innern nach draußen schauen – in die Welt, in der die Sonne auf- und untergeht und auf und in Menschen, denen sie nahesteht. Ihr Blick ist weit und klar, sie hat eine lichtdurchflutete Sicht auf sich, auf andere, auf anderes.

Und es gibt Tage, an denen diese Umrandung blutet, ausfranst, schmerzt. Dann ist das Loch eine Wunde, die um Heilung bittet. Semai ist an dieser Stelle nicht nur verletzt, sondern auch verletzbar und wenn es schlimm kommt, dann kann sie gerade durch dieses Loch Gift und Galle spucken, unmittelbar aus ihrem Innern – aus Verzweiflung, Wut oder Ohnmacht, sie verletzt dann mit ihrer eigenen Verletzung.

Ein besonders häufiger Gast ist in schwierigen Zeiten die Verlorenheit, die durch dieses Loch in Semais Seele ungehindert ein- und ausgeht. Luftzüge von Verlorenheit, Belanglosigkeit und Irrelevanz durchströmen sie dann, dringen in jede Ecke, lassen nichts wie es war – wirbeln Beständigkeiten und Verlässlichkeiten auf, durchfluten Schutzräume und zischeln ununterbrochen etwas von Getrenntheit, Abgeschlossenheit und Einsamkeit im großen Ozean des Seins.

Und dann fällt sie aus ihrem eigenen Loch und reißt ihre treuesten Gefährten mit sich, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Der Duft von blühenden Pfingstrosen erreicht ihr Herz dann nicht.

Und dann sucht sie nach sich selbst. Aber sie kommt aus dem offenen Loch, das zu einem Gefängnis geworden ist, nicht mehr heraus. Gitterstäbe legen sich vor die Offenheit, schwere, aus Stahl geschmiedete, deren Schloss sich nur von innen öffnen lässt. Der Schlüssel zu diesem offenen und gleichzeitig hart verschlossenen Tor liegt aber in der Welt, er ist bei einem Windhauch aus ihrer Seele gefallen… Semai ruft dann, mit ihrer klingenden Stimme, ganz aus der Ferne. Und manchmal hört sie jemand, und manchmal reicht ihr eine warme Hand einen Schlüssel zu sich selbst…

Und wenn sie sich wiedergefunden hat, im Klang der Zeit, wenn das Loch in ihrem Seelen-Flügel wieder bewohnt und von Innerlichkeit beseelt ist, kann sie die Musik des Universums hören. Die Klänge, die der Himmel den Menschen mit einem sanften Lufthauch schickt, damit sie auf ihren Wegen nicht aufgeben. Die Klänge, die klopfende Herzen verströmen und die man nur hören kann, wenn es ein Loch in der Seele gibt. Semai ist den Menschen nah und spürt die feinen Vibrationen des Lebens.

In solchen Momenten kann sie berühren und sich berühren lassen. Innerlich, tief – ohne Scham und doppelten Boden. Denn innen ist außen, hell ist dunkel und die Nähe eröffnet Räume der Begegnung. Nähe und Ferne lösen sich auf, Vertrautheit und Distanz verschmelzen miteinander. Der Innenraum des Loches wird zum Außenraum und zeigt die Verwandlung von Blut- in Goldspuren auf dem Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft.

Semai lebt mit ihrem Loch in der Seele. Manchmal reichen die beiden einander ihre Hände und sie tanzen, sanft und harmonisch – und manchmal ringen sie miteinander, hart und eckig. Gerade ein Loch kann keinen Schutz bieten, sondern sich nur nehmen lassen, wie es ist. Das Loch ist treu, beständig, verlässlich und hat eine offene Tür. Immer dann, wenn die Wunde zum offenen Einladungsraum wird, in dem sich die Mysterien des Lebens ertragen lassen.

Freitag, 18. Mai 2012

Geschenke. Wenn Geld und Hände gereicht werden


Es war kurz vor meinem 37. Geburtstag. Als Biographieberaterin wusste ich wohl, wie sich ein Mondknoten in seiner Variabilität beschreiben lässt. Das hatte ich theoretisch gelernt und so manches Gespräch hatte sich darum gerankt. Ich hatte also eine Vorstellung davon, wie mögliche Szenarien einer heftigen Umbruchzeit aussehen, welche Verunsicherungen und Fragen dazugehören können. Und ich wusste, wie einfach sich dieses emotionale Chaos von außen beschreiben lässt. Besonders im Nachhinein, oder, wenn man eben nicht beteiligt ist…

Mondknoten sind sowohl Geschenke als auch Grausamkeiten. Heute ist es an mir, davon zu erzählen, wohin mich mein zweiter Mondknoten nach allen Verwirrungen geführt hat und wie dankbar ich heute dafür bin.

Damals habe ich das alles nicht so deutlich gesehen. Zu viele diffuse Fragen wirbelten in mir durcheinander. Es war unglaublich viel geschehen, ich war händeringend damit beschäftigt, meinen Alltag irgendwie zu bewältigen. Meine Aktivitäten in der Elias-Initiativgemeinschaft, bei Adventura und im Berghaus waren zum Erliegen gekommen. Ich kämpfte damit, mir beruflich eine neue Stellung zu erringen. NALM bot sich an - ich konnte in der Erwachsenenbildung fortfahren und tat das auch mit halber Kraft.

Denn, die sozialen Fragen waren auch dort bedrängend und ich merkte, dass ich mich fragte, ob ich meine Kräfte wirklich dafür einsetzen wollte. Ging es um all diese Streitigkeiten? Sollte ich so weiter machen? Seminare organisieren? Wer, mit wem - und vor allem, mit wem nicht? - wo, wie, mit wie vielen Teilnehmern… all die Fragen, die jeder freiberuflich Tätige kennt. Und das alles auf einem finanziell schwankenden Boden. Das anthroposophische Umfeld bietet in dieser Hinsicht ja eine großartige Demutsübung an.

Für meine eigene Identität brauchte ich damals neue Akzente, ich musste mich orientieren. Wollte einen Schritt aus der Welt zurücktreten. Zu mir kommen. Mich wieder finden. Lernen. Mich vertiefen. Etwas Eigenes zu meiner Sache machen. Und trotzdem: mit allem weitergehen. Ich wollte hören, was die Welt mir zuraunt und in mir nachspüren, was ich antworten könnte. Aber ich wusste nicht, wir ich aus dem mich umfangenden Netz von scheinbaren Einbahnstraßen heraus kommen sollte.

Ein richtiges Studium an einer Universität hatte ich mir schon immer gewünscht. Aber die Kinder kamen zu früh. Danach all die Verpflichtungen, die finanziellen Notwendigkeiten…. Wie sollte ich das in meinem Alter realisieren?

Und dann kam ich zu einem Kollegen-Treffen nach Basel. Und ich zeigte mich in meiner Not. Dies war der entscheidende Moment, der im Nachhinein eine Vergoldung verdient. Ich weiß noch, dass es zu Hause chaotisch war und nicht geklärt war, wie die Kinder betreut werden. Aber ich wusste: ich will zu diesem Treffen fahren. Und ich fuhr. Mit dem alten, ächzenden roten Passat.

Im Kreis begannen die Erzählungen. Jeder berichtete von sich. Was war, was ist, und was werden soll. Ich weiß noch, dass ich sehr deutlich artikulierte, dass ich gerne studieren möchte. Und dass das aber irgendwie nicht geht, finanziell unmöglich ist. Ich war schon dabei, mich innerlich damit abzufinden - einzuknicken. Und dann kam ein Satz von dir: „Sophie, was du willst ist wichtig. Ich verstehe dich. Und ich unterstütze dich. Ich gebe dir jeden Monat einen finanziellen Beitrag. Würde dir das helfen?“

Ich hatte das Gefühl zu träumen. Und gleichzeitig wusste ich, dass ich im gleißenden Licht der Wirklichkeit stehe. Es ist kein Traum was ich will, sondern Wirklichkeit. Und hier reicht mir jemand die Hand. Du. Es gab einen Moment, in dem sich der Himmel geöffnet hat. Und ich sagte: „Ja. Das hilft mir. Ich mache das. Ich studiere in Tübingen.“

Keine zwei Wochen später war ich an der Universität Tübingen immatrikuliert. Germanistik und Geschichte. Mit einem Abiturszeugnis geht das ja. Es war zwar schlecht, aber danach krähte kein Hahn. Überhaupt krähte kein Hahn. Ich realisierte, dass ich wirklich tun konnte, was ich wollte – wenn ich es nur tat. Und alles fügte sich. Ich bekam noch weiteres Geld geschenkt und dazu gab einen Kreis von Menschen, die mich – auch immateriell – unterstützten, begleiteten, mir bei meinem abenteuerlichen Unterfangen zur Seite standen.

Ich begann zu studieren. Fast auf den Tag genau an meinem zweiten Mondknoten. Ging in die Uni und wurde angesprochen, ob ich Frau Doktor soundso wäre… Naja. Das war schon ein seltsames Gefühl. All die jungen Menschen, die Anonymität und die unglaubliche Gelehrsamkeit. So viele Fremdwörter, Namen, Daten - ich hatte das Gefühl gar nichts zu wissen… aber ich ging einen Weg – meinen Weg.

Ich hörte zu, sah hin, staunte und klinkte mich ein. Im ersten Semester stand die Lyrik im Vordergrund. Ich begann einen einsamen Weg, auf dem mich viele, viele Bücher begleiteten, die mir zu Freunden wurden. Unglaubliche Schätze lagen da verborgen. Ja, menschlich waren die fünf Jahre an der Uni speziell.

Was geboten wurde war Fachkompetenz. Da eröffneten sich mir Welten: die großen literarischen Protagonisten zeigten sich in allen Varianten. Die Helden, die Verlierer, die Liebenden, die Kämpfenden - die literarische Welt bot das ganze Spektrum. Und ich habe all das aufgesogen. Habe gelesen und gelesen. Und zu schreiben begonnen. Wie viele Exposees, Essays, Exzerpte, Klausuren, Abhandlungen oder Hausarbeiten ich verfasst habe weiß ich nicht. Prüfungen musste ich machen, Fragen beantworten, mich präsentieren und beweisen. Auch reden habe ich gelernt.

Das Studium der Erwachsenenbildung, welches ich zugunsten der Geschichte im zweiten Semester begann, bot in dieser Hinsicht einiges. Hier ging es um Konfliktlösung, Moderation, Kommunikation, Beratung, Seminarplanung und vieles andere mehr. Ich habe das Studium sehr erfolgreich abgeschlossen. Um vieles reicher: Erfahrungen, Wissen, einen Standpunkt und einen Titel und, nicht zu vergessen: einen Zettel auf dem das alles verbrieft ist. Damals, mit 42 Jahren, kam ich zurück „in die Welt“ - wohin genau, dass wusste ich nicht unmittelbar.

Gekrönt wurde das Studium, das ohne das großzügige und freie und lebenswichtige Geldgeschenk, das ich Monat für Monat erhielt, nicht hätte stattfinden können, durch die Publizierung meiner Magisterarbeit. Ich habe über den „Roten Ritter“ von Adolf Muschg geschrieben. Das Buch heißt: „Mitspieler werden. Parzivâls Weg - vom Mittelalter in die Postmoderne.“ und handelt von Identitätsentfaltung in einem Beziehungsgeflecht. Gerade von meinem eigenen Weg also, den ich, ohne die Aufmerksamkeit und Freizügigkeit meines Schicksalsnetzwerkes, nicht hätte gehen können.

Sonntag, 13. Mai 2012

Replik zu "Geld schenken (2) Die Verwandlung der Gesellschaft" auf www.jellevandermeulen.blogspot.com


Du schreibst in deinem zweiten Beitrag über Geld und Schenken als letzten Satz: „Die Verwandlung der Gesellschaft läuft wohl übers Geld.“ Dieser Satz springt mich an und ich denke unmittelbar: „Nein, das ist nicht unbedingt so. Die Veränderung der Gesellschaft hat nicht viel mit Geld zu tun, vielleicht gar nichts. Nicht, dass Geld sowohl gesellschaftlich als auch persönlich keine Rolle spielt, nein, das ist schon klar, Geld spielt eine Rolle. Aber, ob die Veränderung der Gesellschaft primär über Geld läuft wage ich zu bezweifeln.“

Auch ich gehöre zu den Menschen, die eher weniger Geld zur Verfügung haben – allerdings immer gerade so ausreichend. Die Situation, kein Geld für die nächste Miete zu haben oder nicht zu wissen, wie ich meinen Hunger stille, kenne ich nicht. Wohl aber befinde ich mich oft in der Situation mich einzuschränken. Gar nicht erst auf die Idee zu kommen in die Oper zu gehen, eine Bildungsreise in ferne Länder zu machen oder vermeintlich luxuriöse Gegenstände in meine Nähe zu kriegen...

Allerdings gab es in meinem Leben einen Moment, in dem mich die Abwesenheit von freiem Geld auf meinem Konto sehr bedrängt hat. Ich wollte studieren – aber ich musste arbeiten (um Geld zu verdienen!) und konnte beides miteinander nur begrenzt vereinbaren. Da war ich mit einem echten Geldproblem konfrontiert und konnte den Gedanken, dass mir das fehlende Geld ein Studium verunmöglicht, kaum ertragen.

Ich kam dann in die Situation, dass mir mehrere Privatpersonen über eine längere Zeit Geld geschenkt haben, damit ich mich frei meinen Studien widmen konnte. Auch ich gehöre also zu den Beschenkten. Dafür bin ich unendlich dankbar! Zu Beginn des Prozesses gab es allerdings einen interessanten Moment in meiner Seele, in dem ich mich selber fragte, ob ich das Angebot annehmen könnte, wollte, sollte – und was das (vor allem auf einer tieferen Ebene) bedeuten würde.

Dadurch, dass ich leibhaftig erlebte, dass es frei geschenktes Geld war, was mir zur Verfügung gestellt wurde, das an keinerlei Bedingungen geknüpft war, jedoch aus einem bestimmten Anlass heraus angeboten wurde, machte es mir möglich es anzunehmen und mein Studium durchzuführen.

Das ganze liegt nun einige Jahre zurück und hat mein Leben verändert. Zwar bin ich immer noch nicht in der Lage selber Geld großzügig weiter zu geben, aber es ist eine Sicherheit in mir entstanden, dass es in dieser Hinsicht um Werte geht, die im Menschen schlummern und einen geschützten Raum brauchen, um geboren werden zu können. Es braucht Zeit und entsprechende Umstände, um den Klang der eigenen Stimme zu erkennen.

Wir alle sind Teil der Gesellschaft – ja machen sogar die Gesellschaft aus! – und mit Geld geht VIELES einfacher (z.B. wenn man nicht irgendeinen Job annehmen muss, um den nächsten Monat zu überleben), aber die Veränderung der Gesellschaft ist von dem zur Verfügung stehenden Geld nicht abhängig.

Abhängig ist unserer Gesellschaft und damit auch ihre mögliche Veränderung vom Selbstverständnis des Einzelnen. Von den Chancen und Möglichkeiten, die er bekommt oder sich erobert, davon, wie wir am Morgen aufstehen, was wir uns für den Tag vornehmen und wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen. Unsere Gesellschaft setzt sich aus Individuen zusammen, die ihre Werte, Traditionen und Schätze in sich tragen und damit die Gesellschaft gestalten.

Ich kann mich jeden Tag entscheiden, ob ich bei einem großen Supermarktkonzern einkaufen gehe oder den kleinen Bioladen unterstütze. Ich kann mir meine Intentionen klarmachen und dafür einstehen – egal wo ich bin. Ich bin ein Teil der Gesellschaft und damit ist unsere Gesellschaft ein Teil von mir. Und dabei spielt es keine Rolle ob ich Jurist, Straßenbahnschaffner oder Verkäuferin bin – und es spielt auch keine Rolle, wie viel Geld ich habe.

Die Veränderung unserer Gesellschaft hängt meines Erachtens davon ab, ob wir ein Verständnis für uns selber entwickeln, ob wir ein Zutrauen zu uns und unseren Fähigkeiten entwickeln oder haben (die Musik in unserem Herzen hören), ob wir gelernt haben mit Wünschen, Vorsätzen und Entschlüssen umzugehen, ob wir ein Gefühl für eigene und fremde Bedürfnisse haben und ob wir innere Wunden und Abgründe zeigen können ohne selber zu verletzen oder jemanden in den Abgrund zu stoßen, und ob wir willens sind, tatkräftig für uns selber, unsere Mitmenschen, für die Erde und Natur auch gesellschaftlich einzutreten.

Samstag, 5. Mai 2012

Geben und Nehmen. "Häuser der Solidarität"


Zwei über neunzig jährige Männer schreiben ein kleines Buch. Sie analysieren in kurzen und klaren Zügen die gegenwärtige Gesellschaft und Politik und beschreiben Lösungs- und Veränderungsvorschläge für die aktuellen Krisen: „Wege der Hoffnung“ von Stephane Hessel und Edgar Morin. Die Autoren bieten konstruktiv und gnadenlos eine Zukunftsperspektive an und machen dabei deutlich, wo die Schnittpunkte sind und dass jeder von uns seinen Beitrag zu leisten vermag – so einfach ist das!

Die Worte der beiden Männer beeindrucken mich tief. Das neue Büchlein ist eine Fortführung von „Empört euch“ und „Engagiert euch“ von Stephane Hessel. Und ich glaube seinen Worten sofort. Der Text hat eine aufweckende und entzündende Wirkung auf mich. Beeindruckend ist, dass die beiden alten Herren, obgleich sie in den Abgrund unserer Gesellschaft schauen, und die herrschenden Verhältnisse nicht beschönigen, Licht am Himmel sehen und zum Ausdruck bringen, dass die „Welt, mitsamt ihrer Menschheit noch zu retten sei“.

Den beiden Autoren geht es um die Vision einer menschlicheren, gerechteren Gesellschaft und um eine Erneuerung von gesellschaftlichen Strukturen. Ihr Ausgangspunkt sind die "vier geistigen Quellen der Linken". Diese Quellen sind: eine freiheitliche (Selbstbestimmung des Einzelnen), eine sozialistische (für eine Gesellschaft der Gerechtigkeit), eine kommunistische (Brüderlichkeit der Menschheit) und eine ökologische Quelle (Rückbindung an die Natur).

Über jedes einzelne Kapitel ließe sich eine kontroverse Abhandlung schreiben. Ich wähle mir den folgenden Satz, der mich unmittelbar trifft. Ich lese: „Die „Häuser der Solidarität“ wären somit Mittelpunkte sowohl der Freundschaft wie auch konkreter Hilfe mit mehrfachem Auftrag. Sie würden Initiativen, Mediation, Verständnis, Zuwendung, Hilfe, Information, ehrenamtliche Tätigkeit und Bereitschaftsdienste bieten.“ (S. 32)

Der Gedanke, dass jedes „Problem“, persönliche und damit allgemeinmenschliche Fragestellungen, die Ecken und Kanten, Höhen und Tiefen des Lebens sowohl gesellschaftlich akzeptiert sind als auch, dass mit ihnen produktiv, wertschätzend und zukunftsorientiert umgegangen wird, bringt Vertrauen in das Leben. Schenkt Energie, Mut und Kraft – und das können wir, so glaube ich, ganz gut gebrauchen.

Ich stelle mir vor, dass sich in den Häusern der Solidarität Menschen treffen, die etwas geben können oder etwas zu nehmen suchen. Es sind offene Orte, die einen Knotenpunkt bilden. Hier treffen Menschen aufeinander und somit Probleme, Fragen, Unklarheiten, Unsicherheiten – und genauso Lösungen, Antworten, Klarheiten und Sicherheiten.

Die Seele des Menschen ist bekanntlich der Ort, an dem sich sowohl Zerwürfnisse als auch Bindungen ereignen, Hoffnungen sichtbar werden oder sich hoffnungslose Abgründe öffnen, dort kann es warm oder kalt werden, dort wird Vertrauen oder Misstrauen gesät. In den „Häusern der Solidarität“ scheint es mir darum zu gehen, auf diesem Feld aktiv zu werden und einander zu begegnen, zu begleiten und Betroffenheit zuzulassen.

Ich stelle mir vor, dass ich mich als Gebende in den Dienst eines „Hauses der Solidarität“ stelle. Dass ich mich für die Belange meiner Mitmenschen weit mehr öffne als bislang. Und genauso stelle ich mir vor, dass ich als Nehmende den Dienst eines „Hauses der Solidarität“ in Anspruch nehme. Dass ich mich mit meinen Wunden zeige und mich in einer kleinen Gruppe auf den Weg mache, meinen Weg zu gehen.

Ich nehme des Weiteren an, dass sowohl Bernard Lievegoed sich über diesen Impuls von Hessel und Morin freuen würde, denn er hat schon in seinem Buch „Über die Rettung der Seele“ darüber gesprochen, dass die Gegenkräfte alles daran setzen werden den Menschen bis zur völligen Kontaktlosigkeit zu vereinsamen und angemahnt, dass es darum geht, Menschen sich „wirklich“ begegnen zu lassen als auch Jelle van der Meulen, der darum bemüht ist, einen Beitrag an die Entstehung einer „Kultur des Herzens“ zu leisten (siehe: www.jellevandermeulen.blogspot.com) und immer wieder darüber schreibt, was es braucht, um aus dem „Kampf des Lebens“ herauszukommen und eine „Kunst des Lebens“ zu etablieren.

…denn, das „Wohlergehen [der Menschheit] setzt voraus, dass der Einzelne sich in der Gemeinschaft entfalten kann. […] und wahrhaft zu leben bedeutet, poetisch zu leben!“ (S. 30) wie es Hessel und Morin so schön formulieren.

(Hessel, Stephane und Morin, Edgar: Wege der Hoffnung. Ullstein Verlag, Berlin, 2012)