Sie liest die ersten Zeilen in dem neuen Buch und Semai weiß es wieder. Unmittelbar hört sie den schaurigen Klang aus der Ferne – wie silberne Perlen auf einer Tränenkette reihen sich die Buchstaben aneinander und verbinden sich zaghaft zu einer Melodie. Leise klingt es, schmerzvoll schön. Sie schließt ihre Augen, lässt sich auf die inneren Bilder ein und versucht zu folgen.
Und sie spürt es schon, er wird wieder kommen. Der innere Abgrund ist stets ein treuer Begleiter. Jedem den seinen. Sie sitzt im Garten, die Sonne scheint und kleine Vögel zwitschern. Die Pfingstrosen blühen und übergeben sich in ihrer Fülle dem Licht. Die Welt ist friedlich und ihr Herz klopft leise. Ist sie bereit, dem Abgrund, dem Schmerz an diesem Nachmittag wieder ihre Arme zu öffnen, durch ihn hindurch zu gehen?
Und sie hört plötzlich die Stimme ihrer Mutter, wie sie einst so nebenbei erzählte: Ja, damals, als du geboren wurdest... Du warst ein zufriedenes Baby. Schon nach wenigen Tagen hast du lange geschlafen. Und so sind wir abends ausgegangen. Und haben dich als kleinen Säugling schlafen lassen. Allein in der Wohnung. Und manchmal, ja manchmal kam es vor, dass wir wieder kamen und du in deinem Bettchen lagst und erbärmlich schriest. Puterrot warst du dann und deine Stimme nur noch ein Krächzen. Nur langsam ließest du dich dann beruhigen…
Und sie erinnert sich auch an die Worte ihres Vaters, die er einst niederschrieb: Ja, als ihr Kinder wart, dein Bruder und du, und wir in dem großen Haus mit den vielen Menschen wohnten, da sind wir abends öfters ausgegangen. Und es kam wohl vor, dass wir wieder kamen und das ganze Haus zusammen lief, weil ihr beiden in dem großen, kalten Treppenhaus standet und weintet und schluchztet und kaum zu beruhigen wart, weil wir euch allein gelassen hatten und ihr aufgewacht seid…
Und da ist das alte Gefühl wieder. Sie kennt den Rand des Abgrunds so gut. Aus diesem Leben. Und den vorigen. Das Gefühl ist alt. Die Angst davor alleingelassen, zurückgelassen zu werden… In diesem Schmerz ist sie zu Hause. Sie liebt ihn. Sie hasst ihn und sie verdammt ihn. Und immer wieder fällt sie hinein und weiß nicht, wie sie wieder heraus kommen soll. Semai steht, wie auf einem hohen Sprungbrett im Schwimmbad und zögert. Vorwärts, rückwärts, das Gleichgewicht halten und stehen bleiben?
Immer wieder sind es diese Momente, die sie an die ferne Vergangenheit mahnen und den Schreck hervorrufen. Den entscheidenden Augenblick in der großen Geschichte. Der Schmerz zerrt an ihr und sie kann kaum mehr nach vorne schauen, Tränen verwehren ihr den Blick. Wo sind die Menschen, die Freunde und Gefährten? Wo ist das warme Gefühl des Aufgehoben seins?
Was war es, was damals geschah? Und sich symbolhaft wiederholt? Es ist der schaurig-schöne Klang in ihrem Herzen, den sie kennt und dem sie folgt – weil sie davon überzeugt ist, dass sich aus der Vergangenheit die Zukunft gebiert. Und alles – doch – noch – irgendwie – gut wird.
Schicksal nennt man das Sein eines Menschen in seinen konkreten Lebenszusammenhängen. Und Ja sagen solle man dazu – das gäbe Kraft heißt es. Ach, gewillt ist sie schon, aber schwer ist es doch. Sie kann gut alleine sein, das ist es nicht. Aber die Angst vor dem Verlust umzingelt sie immer wieder wie ein alter Schatten, der am Rand des Abends vergessen wurde. Sie braucht die Gefährten.
Wenn Senai allein so traurig ist, dann ist sie sanft und schön. Und auch der Schatz ist noch immer da. Aber er ist in einer Falte versteckt, damit ihn niemand sieht. Und manchmal, wenn sie im Alltag aufmerksam ist, dann nimmt sie die Signale wahr und erzählt davon – wenn sie kann. Es sind die undurchdringbaren Geschichten, das Gold der Armen, die Erzählungen der Geschehnisse, die niemand versteht.
Denn auch sie weiß nicht, was es zu erzählen gibt. Aber sie weiß, welche Momente es in ihrem Leben sind, die die karmischen Erinnerungen heraufbeschwören. Und sie glaubt daran, dass die Wunde einst heilt, und dass sie, Hand in Hand mit sich selbst, den Abgrund souverän durchschreiten wird, um mit den Gefährten ein neues Land zu erobern.
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