Ich habe Rosen gekauft. Einen strahlenden Strauß leuchtender Rosen. Für euch Vier. Irgendwie. Er steht vor mir und lächelt in die Welt. Ja, bei aller Bescheidenheit sind es doch elegante und prächtige Rosen, die von der Schönheit des Lebens zeugen. Ich kann euch die Rosen physisch nicht übergeben. Drei von euch sind bereits verstorben, zu einem von euch fehlt die direkte Verbindung. Die Rosen werden also hier stehen bleiben und mich die nächsten Tage begleiten.
Du hast heute Geburtstag. Letztes Jahr haben wir noch zusammen gefeiert. Heute werden wir „ohne dich“ feiern und vermutlich doch irgendwie mit dir, denn es ist „dein“ Geburtstag. Du bist vor einigen Monaten verstorben. Plötzlich und unerwartet „abberufen“ worden. Dein Bild steht auf meinem Küchentisch und ich sehe dein fotographisch festgehaltenes Lächeln jeden Tag. Die Frage nach dem „Sinn“ deines Todes schwebt und webt und baumelt noch immer haltlos im Raum - irgendwie.
Seit du tot bist, bist du mir näher als vorher. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendwie an dich denke. Unsere Gespräche zwischen hüben und drüben haben meist monologischen Charakter, aber manchmal treten wir auch in einen Dialog. Du bist dann plötzlich da. Tagsüber kann es vorkommen, dass ich deine Stimme höre, deine Gesten sehe, mich von deinem Blick umfangen fühle. Und manchmal tauchst du des Nachts in meinen Träumen mit kräftigen Bildern auf.
Und auch du hast heute Geburtstag und bist eigentlich gar nicht so viele Kilometer von mir entfernt, wenn du noch dort wohnst, wo du damals wohntest. Das Leben hat uns auseinander getrieben – obwohl wir doch so eine weite Strecke miteinander gelaufen sind. Irgendwie ging es dann nicht mehr. Es waren auch so viele Menschen beteiligt – ich weiß gar nicht mehr, wie ich das alles auf einen Punkt bringen könnte.
Wir hatten ähnliche Ziele, ließen uns von gemeinsamen Visionen tragen, waren voller Ideen, Kreativität und haben auf der praktischen Ebene richtig etwas gemeinsam geschafft. Irgendwann verknotete sich das Schicksalsnetz dann auf der Ebene des beruflichen Miteinanders. Und das kostete uns, irgendwie, die Freundschaft. Aber ich denke heute an dich und wünsche dir alles Liebe und Gute zum Geburtstag.
Und auch du hast heute Geburtstag. Du bist mein Großvater und ich kenne dich nur von einem einzigen Foto. Lange vor meiner Geburt bist du verstorben – an den Folgen des Krieges. Aber ich habe viele Erzählungen über dich gehört, und so habe ich dich doch, irgendwie, kennengelernt. Ob meine Vorstellung von dir, die Bilder, die ich mir in meiner Phantasie von dir gemalt habe, mit der „Wirklichkeit“ übereinstimmen, weiß ich nicht.
Du gehörst zu meinem familiären Band. Physisch bin ich auch aus dir, durch dich hervorgegangen. Irgendwie. Im Sommer werde ich in deine Heimat reisen. Dorthin, wo du geboren wurdest, wo du gelebt hast – bevor ihr vertrieben wurdet und auch dorthin, wo du verstorben bist – so plötzlich, so sinnlos und so unendlich traurig für deine Frau und deine Söhne.
Und Du hast heute nicht Geburtstag. Nein, heute ist dein Todestag. Aber du bist genau am Geburtstag deines Mannes gegangen. Heute vor zweiundzwanzig Jahren. Du warst diejenige, die mir von meinem Großvater erzählte, denn du warst die entsprechende Großmutter. Dir hat er gefehlt – du hast so viel von diesem fremden Mann erzählt, der mir im Laufe meiner Kindheit immer näher kam.
Du hast lange gelebt und warst mir sehr nah. Deinen Tod habe ich begleitet, so kurz nach der Geburt meiner Kinder. Geburt und Tod so eng beieinander. Es ist ein Kommen und Gehen aus und in die geistige Welt. Und du bist da, noch immer da, irgendwie, und ich habe meinen Kindern so viel von dir erzählt. Davon, dass du immer dann so glücklich warst, wenn du mir eine Freude machen konntest.
Und so sitze ich hier vor dem Rosenstrauß, den ich für euch gekauft habe und grüße euch. Schicke meine Grüße von hier nach dort. Von mir zu euch. Möge es euch „gut gehen“, dort, wo ihr seid, bei dem, was ihr „macht“. Ich freue mich, dass ihr fernen Gefährten auch irgendwie zu meinem Schicksalsnetz gehört. Alles Liebe euch!
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Hilde Domin
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