Auszug aus einem Interview:
Welche Bedeutung hatte der Krieg in deiner Jugend? Welche Vorstellungen hattest du dabei? Inwieweit hatte der Krieg auch mit dir zu tun?
Ich glaube, dass ich es heute so beschreiben würde: Als Kind fühlt sich sowohl die Gegenwart SEHR groß an, als auch der unmittelbare Lebenszusammenhang. Eine Vorstellung davon, dass es prinzipiell anders sein könnte, entsteht erst mit der Zeit. Zukunft und Vergangenheit haben deutlich weniger Raum als alles das, was gegenwärtig ist und es dauert eine ganze Weile, bis die Vorstellung dieser beiden Zeitdimensionen irgendwie miteinander verschmilzt und handhabbar wird. Natürlich „wusste“ ich schon als kleines Kind irgendwie, dass es einen Krieg gab und dass „früher alles anders“ war.
Vielleicht ist es so, dass es diesen Film schon länger im Familienrepertoire gab, dass ich als Kind aber nur kleine Ausschnitte kannte, die sich dann mit zunehmendem Alter immer mehr miteinander verbunden haben. Lange war ich dabei ein Zuschauer. Dass ich beteiligt bin und diese Beteiligung auch spüre und lebe, dass „die ganze Sache“ also kein Film ist, den ich mir anschaue und dann wieder abschalte, ist mir erst als Erwachsene klar geworden. Meine Gegenwart hat sich aus der Vergangenheit, aus dem Drama des Jahrhunderts konstituiert und gehört damit, irgendwie, zu mir.
Das Bewusstsein darüber, dass der Krieg also nicht nur eine Erzählung ist, sondern das Fundament meines Lebens ist, ist mir erst relativ spät gekommen. Der Zweite Weltkrieg war in meiner Kindheit eine Erzählung, keine schöne, aber mehr auch nicht. Viel aktueller und bedrohlicher war der Vietnamkrieg, der auch bei mir zu Hause heftig diskutiert wurde. Ich erinnere mich an Fernsehbilder aus den Nachrichten, die ich sehr beängstigend fand.
Wenn ich heute zurückblicke, dann kann ich das Trümmerfeld, das der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat, sehen. Auch mein Leben wurde darauf aufgebaut. Nicht nur, dass das Haus in dem ich lebte, auf einem Trümmerfeld aufgebaut wurde, sondern vor allem das seelische Trümmerfeld, in dem „die Erwachsenen“ gefangen waren. Es gab bei uns zu Hause keine Gewalt, keinerlei „physische Züchtigung“, aber es gab das seelische Schlachtfeld, auf dem wir uns alle bewegten.
Krieg gab es „nur“ im Wort. Man nennt es auch „Diskussionen“, „Debatten“, „Kontroversen“ oder „Wortgefechte“. Mir selber war lange nicht klar, wann und wo ich mich auf sicherem Terrain befinde, wo Gefahr droht und wann ein „Kampf“ unausweichlich ist. Der physische Krieg war längst zu Ende, im seelischen steckten wir alle mittendrin und übten uns in der Erweiterung unseres Vokabulars.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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