“Those who cannot remember the past are condemned to repeat it” (George Santayana)
Das ist schon bekannt: Gegensätze sind Gegensätze. Und, sie bedingen sich gegenseitig, gehören zueinander. Auf der vertikalen Ebene gibt es zwischen Himmel und Abgrund die Ränder der Schlucht, sie machen die horizontale Ebene aus. Auf der einen Seite gibt es Bewusstsein und auf der anderen Seite die Unbewusstheit. Dazwischen ist ein Abgrund, der sich sowohl in die Tiefe und Höhe als auch in die Weite erstreckt. Wenn sich die gegensätzlichen Polaritäten näher kommen, entsteht eine dritte Dimension.
Eigentlich müsste es einen neuen Begriff geben: wenn sich Bewusstsein und Unbewusstheit näher kommen, wenn sie auseinander hervorgehen, wenn sie nicht mehr voneinander getrennt sind, gegen einander kämpfen, sondern miteinander tanzen, ineinander aufgehen, wie nennt man ihre Verschmelzung dann?
Wenn das Unbewusste ins Bewusstsein dringt, ist das oft schmerzvoll. Besonders dann, wenn es um delikate Dinge geht. Der Schutz der dunklen Ummantelung geht verloren, das Träumerische verliert die vage Ahnung. Festpunkte können ins Wanken geraten, das eigene Selbstverständnis bröckelt, kurz, es muss neu navigiert werden, der gewohnte Weg trägt nicht mehr.
Das „Schöne“ oder „Interessante“ an einer transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Kriegserlebnissen ist es, dass sich etwas bemerkbar macht, was erst einmal gar keine Evidenz aufweist, sondern aus der Tiefe der Unbewusstheit aufsteigt. Was habe ich schon mit dem Krieg zu tun? Mit traumatischen Erlebnissen? Mit einer ungelebten Kindheit, mit einer Desillusionierung im Erwachsenenalter? Mit all den eingegrabenen Erlebnissen, den Ängsten und Schrecken sowie den darauf folgenden Mustern, Haltungen oder Urteilen?
Jede Generation wird in ihrem Schicksalsnetzwerk in „ihre“ Welt hineingeboren. Das gesellschaftliche Leben hat sich von der Jahrhundertwende des letzten Jahrhunderts, der Mitte des 20. Jahrhunderts und dem Ende sehr verwandelt… Offensichtlich ist es aber so, dass die aufeinander folgenden Generationen durch ihre karmische Verknüpfung intensiv miteinander verbunden sind.
Sozialisation hin oder her, es gibt ein geistiges Band, das den Erbstrom auseinander hervorgehen lässt. Im Fall der Generationen: „Krieg, Flucht und Vertreibung“ (Großeltern – ausgeliefert an politische Ereignisse der Großmächte), „Kindheit in Trümmern“ (Eltern - Kriegskinder) und „Leben in einer Wohlstandsgesellschaft“ (meine Generation – Kriegsenkel), entsteht eine ganz besondere Nähe. Es wird eine Wunde, ein Loch, eine Verunsicherung und eine Leere weitergetragen, die nach Transformation, nach Heilung ruft.
Ich könnte mich fragen, was ich mit der tragischen Lebensbilanz meiner Großeltern zu tun habe oder der speziellen Haltung meiner Eltern dem Leben gegenüber – und kann es nur so verstehen, dass diese Verbindung karmisch „gesucht“ wurde. Dass das Leben mich dazu eingeladen hat, mich damit zu beschäftigen. Bewusstsein in Schlummerndes und Schlafendes zu bringen und aus dieser Vergangenheit eine neue, kraftvolle und gute Zukunft hervorgehen zu lassen, die keine toten Kühe hinter sich herschleppt.
Mein Leben lädt mich dazu ein, meine eigenen Wunden wahrzunehmen, Schmerzen und Sehnsüchte zuzulassen und mich (irgendwann) von der unbewussten Kraft der Schrecken so zu verabschieden, dass etwas Neues entstehen kann und ich in meinem eigenen Leben ankomme. Das heißt, dass ich mich von der unbewussten Haltung verabschiede, dass meine Überlebenskraft an die Vergangenheit gebunden sei, sondern sie so zu integrieren, dass sie für eine Zukunft frei wird, die sich auszusprechen beginnt, wenn ich den Mut habe, meine Verlorenheit anzunehmen.
Die Wunde meiner Vorfahren ist auch in mir zu finden. Und auf irgendeine Art wird sie dort auch bleiben. Das wirkt sich in meinem privaten Leben aus, aber auch in meinem „öffentlichen“. Sie fragt um eine liebevolle Integration in mein Leben. Aber sie ist es auch, die mir einen Platz in der Gesellschaft gibt, sie ruft mir zu, mich (mit der Geschichte meiner Vorfahren) einzubringen. Mich als Zeitgenossin zu empfinden, mitzureden, mitzumachen. Sie geleitet mich auf dem Weg, vom Zuschauer zum Mitspieler zu avancieren – und nicht unbewusst etwas zu wiederholen, was einer freien Zukunft nicht dienlich wäre.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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