Als du so alt warst, wie ich es jetzt bin, lag der Zweite Weltkrieg gerade hinter euch. Die sechs bangen Jahre, die Europa umkrempelten und schließlich dazu führten, dass ihr alles verloren habt. Du hattest zwei kleine Söhne und warst, zusammen mit ihnen, in einem kleinen Zimmer bei Verwandten untergebracht. Die Flucht hatte euch gerade über die deutsche Grenze geführt. Dort wähntet ihr euch in Sicherheit – vor den Tschechen. Innerer Stolz und materieller Besitz waren verloren gegangen. Demütig hast du deinen „Gewinn“ beschützt: dein eigenes Leben und das Leben deiner beiden Söhne. Euer Leben konntet ihr retten. Mehr nicht.
Ab 1946 lebte der Bergbau in der Stadt Aue in Sachsen neu auf. Das war nicht weit weg von euch. Für die sowjetische Siegermacht wurde dort Uranerz gewonnen. Dein Mann – mein Großvater – begann in diesem Erzbergwerk zu arbeiten. Und er starb wenig später. Vermutlich an den Folgen von radioaktiver Strahlung. Als du so alt warst wie ich es jetzt bin, hattest du alles das, was vorher dein Leben ausmachte, verloren. Du warst Witwe, hattest zwei kleine Söhne und musstest nach vorne schauen.
Einfach nach vorne schauen. Du warst es nicht gewöhnt gewesen zu arbeiten. Nein, du bist morgens eigentlich immer erst einmal ausgeritten, bevor der Tag begann. Oder du spieltest ein Tennismatch mit deinem Mann, bevor er als Direktor ins Elektrizitätswerk ging und sich vergewisserte, dass alles glatt lief. Du hattest Dienstboten und führtest ein angenehmes Leben. Jetzt war alles anders. Ihr musstet von deiner Hände Arbeit leben. Von Kartoffeln. Und manchmal vielleicht auch von Kartoffelschalen.
Irgendwie hast du dich und die zwei Jungs durchgebracht. Sie sind in die Schule gegangen, während sich die DDR konstituierte. Über diese vierzehn Jahre im Osten Deutschlands weiß ich wenig. Was ich aber weiß ist, dass ihr noch einmal geflohen seid. 1958. In den Westen. Über die grüne Grenze. Es war nicht deine Initiative. Aber du hast mitgemacht. Und es ist gelungen. Und wieder: ein Neuanfang. Dieses Mal im Westen.
Du bekamst im Auffanglager ein Brotmesser geschenkt. Daran erinnere ich mich. Ich war zwar nicht dabei, aber als ich später als Kind immer wieder bei dir war, fiel dieses Messer irgendwie auf. Es war alt und wurde gut gehütet. Du hast mir einmal erzählt, woher dieses Messer kam. Du knüpftest daran Hoffnungen. Hoffnungen auf ein besseres Leben. Deine Söhne sollten es gut haben, besser haben als du. Sie sollten etwas werden.
In deinem Wohnzimmer hingen zwei Fotos. Eins von deinem Mann – den ich nie kennen gelernt habe – und eins von deinen beiden Söhnen, noch aus der Heimat. Über „der Heimat“ (vor den Kriegen) lag ein Schleier. Du sprachst nur ganz vage und kaum darüber und es dauerte lange, bis ich mir ein Bild davon machen konnte, was ihr durchgemacht hattet, woher ihr kamt und wie es sein musste, nun hier, irgendwie so, zu leben.
Heute, nachdem ich dafür gekämpft habe, dass euer Grab nicht aufgelöst, sondern weiter erhalten bleibt, habe ich viele Fragen an dich. Denn auch wenn deine Geschichte für mich, bis auf ein paar Informationen, im Dunkeln liegt, habe ich das Gefühl, dass ich damit etwas zu tun habe.
Wie groß müssen deine Angst und dein Schmerz in diesen Jahren gewesen sein? Wie sehr hast du gehofft und gebangt, dass ihr „mit mehr als dem Leben“ davon kommt – auch wenn kaum etwas davon übrig blieb? Welch ein Schlag muss es für dich gewesen sein, als, nach Beendigung des Krieges, dein Mann starb? Wie schwer muss das Schweigen in all den folgenden Jahren in deinem Herzen gewogen haben? Wie hast du innerlich zu den Begriffen „Opfer“ und „Täter“ gestanden? Was bedeutete die „Deutsche Schuld“ für dich? Wolltest du deinem Leben einmal ein Ende setzen? Hast du etwas „Schlimmes“ erlebt, bist du vergewaltigt oder bedroht worden? Und letztendlich, was hat dir die Kraft gegeben weiter zu machen?
Du warst eine wunderbare Großmutter für mich. Du hast mir alle Wünsche erfüllt, die du mir erfüllen konntest. All deine Aufmerksamkeit war auf uns gerichtet, meinen Bruder und mich. Du hast unser Lieblingsessen gekocht, bist mit uns in den Zoo und später ins Kino gegangen. Du warst in meiner Jugend ein Festpunkt – denn in meinem Leben wurden die Kriegsjahre auf einer anderen Ebene wiederholt.
Wie schaust du auf dein Leben zurück? Vor 110 Jahren wurdest du geboren… Ein ganzes Jahrhundert ist seitdem vergangen. Schade, dass du uns in dieser Hinsicht so wenig „Geschichte“ hinterlassen hast, dass ich so wenig von dir weiß. Aber ich verstehe gut, dass du diese Schutzmaßnahme des Schweigens brauchtest. Heute bin ich dabei das zu verarbeiten, was euch widerfahren ist, denn die seelischen Abgründe, durch die ihr wandern musstet, werden weitergegeben, wenn wir kein Licht darauf werfen.
Ich grüße dich!
(Fortsetzung folgt)
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Wie schön du schreibst berührt mich immer und immer wieder. Toll. Mi.
AntwortenLöschenInspiriert durch Deine Worte:
AntwortenLöschenbeobachtendes Ich
setzt sich
wie ein stern ans fenster.
wandert
blickt
und
bleibt.
der umkehrpunkt
erscheint dir
im lichte des seins.
erfahrbar im grunde
des sich tätlich
wechselden
seins
im alltagsgesicht.
widerstehe
und glaube
der tiefe deines
seins
erfahre dich
im grunde
des einfach dreifach
ernst
gefachtem
himmelstern.
Samen.
menschensamen.
Susanne Sturm 29.02.2012
Sehr schön! Auch diese Worte berühren die innere Netzhaut des Herzens, da schreibt jemand mit Erfahrung... Ja, es geht weiter. Ich folge der Lichtspur, die beherzt ihr Licht nach vorne ins Dunkle wirft und deren Quelle, der Mut einer brennenden Kerze, ich zaghaft in den Händen halte.
AntwortenLöschen