Als Anna sich auf den Weg machte wieder auf die Erde zu kommen, suchte sie sich einige Grundbedingungen aus, die ihr auf ihrem Lebensweg Dienste leisten sollten – so hatte sie es offenbar zum Zeitpunkt der Entscheidung einer erneuten Inkarnation angenommen. Und, das ist ja klar, aus der geistigen Welt leuchten die irdischen Dinge in einem etwas anderen Licht als aus der Bodenperspektive. Also, dort in der Umschlagsphäre, nachdem sie alte Erfahrungen beleuchtet, gefühlt und erkannte hatte, wählte sie den bestmöglichen Ort, die passende Zeit und geeignete Bedingungen für einen erneuten Weg.
Dummerweise vergaß sie alle weisen Gedanken, Vorhaben und Einsichten als sie geboren wurde. Sie kam vor dem offiziellen Geburtstermin, wurde in Steißlage geboren und in ein Säuglingszimmer transportiert, damit die junge, noch studierende Mutter, die sich erst noch mit dem Gedanken anfreunden musste, nun ein Kind zu haben, wieder zu Kräften kommen konnte. Anna schlief viel und wenn sie wach war benutzte sie ihre Stimme kräftig, um irgendwie Aufmerksamkeit zu erlangen.
Zupass kam den jungen Eltern, dass die Kleine morgens lange schlief, des Abends jedoch, wenn sie politisch aktiv waren, pokerten sie darauf, dass das Baby auch dann schlief – was offensichtlich nicht immer der Fall war. Schon in den ersten Jahren bekam Anna eine rauere Stimme – der Arzt sagte später, dass es sich um Schreiknötchen an den Stimmbändern handele – mit der sie sich immer wieder versuchte Gehör zu verschaffen.
Sie hatte für den Beginn ihres Lebensweges spannende, unruhige und aufregende politische Zeiten in Deutschland gewählt – in ihrem Elternhaus wurde lautstark und täglich über die Geschehnisse und vor allem die notwendigen Veränderungen diskutiert. Aufrufe wie: „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ hingen schon im Kinderzimmer. Gesungen wurde, auf Demonstrationen, im Kinderladen und auf dem Spielplatz:
„Es ist am Morgen kalt, da kommt der Willibald
und klettert in den Bagger und baggert auf dem Acker
ein großes tiefes Loch - was noch?
Naja, so fängt das an; dann kommen alle Mann.
Sie bauen erst den Keller, dann bauen sie immer schneller,
was kommt dabei heraus? - Ein Haus!
Und in das Haus hinein zieh‘n feine Leute ein.
Die Miete ist sehr teuer, kost' über 1.000 Eier.
Wer kriegt die Miete bloß? - Der Boß!
Der Boß kommt ganz groß 'raus, dem Boß gehört das Haus;
dem Boß gehört der Acker, der Kran und auch der Bagger,
und alles, was da ist - so'n Mist! […]“ von Dieter Süverkrüp
Annas Familie war up to date. Modern, aufgeklärt – ohne alte Konventionen, Gewohnheiten oder überkommene Sitten und Bräuche. Keine Volkslieder, Märchen oder Legenden – sondern politische Aufklärungsarbeit. Alles wurde rational überprüft, gewertet, gewichtet und meistens für unbrauchbar befunden. Annas Kindheit wurde vom Materialismus geprägt. Keine Religion, keine Jahresfeste, keine Rituale oder Sakramente. Was es gab waren Diskussionsrunden, politische Manifeste und Demonstrationen.
„Die Anderen“ machten es verkehrt, waren reaktionär, altmodisch und konventionell verhaftet. In Annas Welt war man „gegen“ etwas (ungefähr gegen alles), gegen das Alte, das Überkommene, gegen Traditionen, Klischees und alt hergebrachte Rollenverteilungen. Jeder „durfte“ sich jeden Tag neu erfinden – was zählte war die politische Korrektheit – Gedanken spielten die entscheidende Rolle, Gefühle, Sehnsüchte und Wünsche gab es nicht.
Als Anna größer wurde fragte sie sich immer wieder, warum sie diese Lebensbedingungen gewählt hatte, welche Entwicklungsmöglichkeiten darin versteckt lagen, wozu das alles diente. Wofür sie sich Eltern ausgesucht hatte, die im Zweiten Weltkrieg Flüchtlingskinder waren, die kaum eine Familie kannten, keine Heimat, kein Nest, deren Werte und Normen so brutal über den Haufen geworfen wurden? Warum wuchs sie ohne religiöse Einbindung auf, wieso lernte sie die Natur nur in den Ferien kennen, warum hatte sie (auf intellektueller Ebene) einen erneuten Kampf ums Dasein zu führen?
Anna sehnte sich oft nach Geborgenheit. Nach Wärme und Nähe. Doch sie selbst musste erst lernen, diesen Komponenten in ihrem Leben Raum zu verschaffen. Die Wunde heilen zu lassen. Aus dem Verlust in der Vergangenheit wurde eine Sehnsucht in der Zukunft. Alles war auf die Zukunft ausgerichtet, dort sollten sich Löcher, Versäumnisse und Unbekanntes in eine Kultur transformieren, die von Wärme, Anerkennung und Respekt getragen war.
War das die Schale (die sie offensichtlich in der geistigen Welt beschlossen hatte zu bilden), die ihr Leben bis zu diesem Augenblick hervorgebracht hatte, aus der heraus die Leere und der schwankende Boden unter ihren Füßen zu Wahrnehmungsorganen wurden, die das Zarte, Sanfte und Warme im Leben auf postmoderne Art keimen lässt?
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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