Freitag, 17. Februar 2012

Kriegsenkel sein (I). Ein unscheinbares Erbe zeigt sich

Zehn Frauen, im Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahren und äußerlich sehr unterschiedlich auftretend, setzen sich an einem Samstagnachmittag in einen Kreis. Sie kennen sich nicht. Noch nicht. Was sie vereint ist zum einen die Tatsache, dass ihre Eltern im Zweiten Weltkrieg Kinder waren und zum anderen die Vermutung, dass traumatische Erlebnisse der Eltern unbewusst an sie weitergegeben wurden. Man nennt das: Transgenerationale Weitergabe von belastenden Erfahrungen und Traumata.

Viele der Eltern sind außerdem Flüchtlingskinder, die ihre Heimat hinter sich lassen mussten und „irgendwo“ und „irgendwie“ neu angefangen haben. Interessant ist dieser Aspekt aus dem Grund, weil die Frauen das Gefühl haben, mit der Geschichte ihrer Eltern etwas zu tun zu haben – obwohl sie es doch so anders, so viel besser hatten. Die Frauen sind gekommen, um herauszufinden, was ihre eigenen Lebensthemen und vor allem ihre Schwierigkeiten und Probleme mit den kindlichen Erlebnissen der Eltern zu tun haben.

In einer Runde stellen die Frauen sich einander vor. Sie geben einen kurzen Abriss ihres Lebens, der Situation der Eltern im Krieg und benennen die Themen, die ihr Leben prägen. Schon nach wenigen Minuten laufen die ersten Tränen. Es ist, als ob die steinige Brachlandschaft im Innern der Einzelnen von ihrer Trockenheit und Staubigkeit befreit würde, die brüchigen Formationen brechen auf, alles gerät in Bewegung: die einzelnen Bruchsteine zeigen sich von einer neuen Seite und bieten sich an.

Die äußerliche Fassung weicht der inneren Auflösung. Es scheint, als ob ein sanfter schwarzer Nebel über den Dingen des Alltags liegt, der bleischwer im Lebensrucksack wiegt und an den sich jede schon vor so langer Zeit gewöhnt hat... Jede der Frauen ist ganz bei sich, erzählt mit wenigen Worten etwas über sich und doch entsteht in der Mitte des Kreises ein Pool aus Geschichten, in dem die verschiedenen Nuancen des Themas miteinander Kontakt aufnehmen.

Fragen, Aussagen und Hoffnungen treffen aufeinander:
Wer bin ICH? Woher komme ich? Wohin gehe ich? – Das EIGENE Leben leben… Vom Überleben zum Leben. Durchhalten – weitermachen. Was gibt mir echte Kraft? Versagen – wenig Selbstvertrauen; Stärkung! – aber wie? Wo bin ich zu Hause? Heimat, Heimatlosigkeit, Orte des Durchgangs, der Verwurzelung… Gefühle – wie Schwächen zeigen, Ängste zulassen, Unsicherheit annehmen? Bindungsstörungen. Schuldgefühle und Ängste.

Wie erreiche ich meine Eltern, die Kriegskinder, und kann ihnen etwas von mir, der Kriegsenkelin erzählen? Welche Themen oder Gefühle habe ich übernommen? Wie spiegelt sich die Familiengeschichte in meinem Leben? Integration der Familiengeschichte. Frieden mit den Eltern und deren Geschichte finden…

Flüchtlingsmentalität. Wie wurde in der Familie mit den Erlebnissen aus Krieg und Nachkriegszeit umgegangen? Was sind Familienthemen, -geheimnisse und -aufträge. Nachforschungen zu Personen, Orten oder Genealogie (Wurzeln suchen). Austausch, Tipps. Parentifizierung - Umkehr: Tochter–Mutter–Beziehung.

Drei Themenkreise werden sichtbar:
Der Blick auf die Gegenwart, auf uns selbst – was trage ich mit mir herum, womit ringe ich, was spielt unterschwellig eine Rolle, warum habe ich diese Thematik gesucht?

Der Blick auf die Vergangenheit, auf Eltern, Vater oder Mutter – was ist ihnen wirklich passiert, wie leben sie damit, womit ringen sie, was muss bearbeitet werden?

Der Blick auf die Zukunft, unsere Wünsche - wie können wir, die Kriegsenkel darüber in eine OFFENES Gespräch mit unseren Eltern, den Kriegskindern kommen, wie lässt es sich mit Traumata so leben, dass sie nicht unbewusst weitergegeben werden?

Nach drei Stunden Begegnung hat sich eine Schale gebildet, in der wir uns zusammen mit unseren Themen befinden. Sehr persönlich und privat sowie ganz allgemein und thematisch auf die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert bezogen. Deutlich ist, dass sich „Geschichte“ nicht abstrakt abspielt, sondern dass wir Menschen mit unseren Dispositionen, Stärken und Schwächen, unseren Vorlieben, Ängsten und Wünschen das seelische Feld dafür bieten und das über Generationen weitergeben. Geschichte ereignet sich zwischen Menschen, in der persönlichen Weitergabe von Werten und Normen – nicht in Geschichtsbüchern.

Es gibt viel zu tun, denn die verletzlichen Frauen wollen in ihrer eigenen Geschichte ankommen und die Verletzungen, Verunsicherungen und Traumata ihrer Eltern freigeben.

(Fortsetzung folgt.)

3 Kommentare:

  1. Ich bin gespannt, und nicht nur, weil ich zu dieser EnkelKinderGeneration gehöre...
    SST

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  2. Ich bin gerade auf das Thema gestoßen, habe verstanden, dass es auch MEIN Thema ist und vieles erklärt, was mir bisher unverständlich war. Jetzt suche ich weiter ... nach mir, meiner Geschichte - und Menschen im Kreis Kehl/Offenburg, die darüber sprechen möchten!
    CS, Jahrgang 1956

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    1. hallo CS, ich bin Jg. 1956 und schon lange am Thema dran. Suche mir hier in Tübingen oder Stgt. die Gruppe. Ich möchte wissen, wie ich das Thema auslöse meinen Kindern- 20 und 25J.- gegenüber.
      Patti

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