Es ist still um mich herum, die Welt scheint in Watte getaucht zu sein, ich blicke nicht durch. Ich bin allein und fühle mich frei. Ich sollte etwas tun. Aber ich mag nicht. Es braucht einen Augenblick Zeit. Ruhe. Einen Blick nach innen. Warte ich auf die Welt? Wartet die Welt auf mich? Ich sitze an meinem Tisch und schließe die Augen.
Und denke an euch: Wie es euch wohl geht, wo ihr wohl heute seid? Ihr wolltet in zwei Tagen zweieinhalbtausend Kilometer fahren, um an einen bestimmten Ort zu kommen. Einen Ort, von dem ihr euch etwas erhofft, wo etwas geschieht. Eure Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche tragen euch, lassen euch weit fahren, beflügeln eure Möglichkeiten. Ihr befindet euch am Eingangstor der Zukunft – und das wisst ihr, die Klinke habt ihr schon in der Hand.
Und ich denke an dich: Du hattest Geburtstag, bist 50 Jahre alt geworden, und ich habe noch nicht angerufen. Ich konnte auch nicht zu deinem Fest kommen, du bist zu weit weg, es wäre ein Weg in meine Vergangenheit gewesen. Und ich hätte mich gerne darauf eingelassen. Wir sind ein Stück des Weges zusammen gegangen – das ist lange her. Wie mag es der oder dem gehen? Es wäre sicher schön gewesen, dich in deinem Netz zu sehen, zu dem auch ich – irgendwie – gehöre.
Und ich denke an dich: Du hast Stress, das weiß ich. Es war viel in der letzten Zeit. Jetzt beginnen die Ferien und es gilt die inneren Türen zu schließen. Die offenen Projekte bleiben brach liegen, manches wird der Witterung nicht stand halten, über anderes wird Gras wachsen und noch wieder andere Projekte werden einfach auf Vollendung warten. Die Herausforderung heißt: loslassen und gleichzeitig dabeibleiben. Eine Gradwanderung.
Und ich denke an dich: Auch du sehnst dich nach den Ferien – danach, keine Termine zu haben, nicht funktionieren zu müssen, aber atmen zu können. Den Herzschlag zu beruhigen, in ein Gleichmaß zu bringen, Ruhe einkehren zu lassen. Den Zwischenraum zu finden, den es zwischen allem oder nichts geben muss. Vorhaben und Kontakte pflegen. Ich wünsche dir, dass du schreiben kannst, dass du dein Manuskript wieder aufnimmst und es vollendest – es hat es verdient.
Und ich denke an dich: Du wirst die nächsten zehn Tage in einem großen Haus allein sein – das ist neu und ungewohnt für dich. Ob du das wirklich magst, das weiß ich nicht, aber du wirst es tun. Du hast einen starken Willen, der dich führt. Manchmal überwältigt er dein Gefühl – und du musst das Ergebnis ausbaden. Aber wir werden uns in der Sonne wiedertreffen. Und ich werde dir einen besonderen Ort zeigen – wenn du dich darauf einlassen kannst.
Und ich denke an dich: Schon viele Jahre habe ich nichts mehr von dir gehört. Dein Alltag ist mir unbekannt, deine Stimme fern. Und trotzdem denke ich an dich. Wüsste gerne, was du tust, wie es dir geht. Spüre noch immer das unerträgliche Schweigen zwischen uns – man nennt es einen Bruch, den wir beide nicht gewollt haben. Eine intensive Zeit der gemeinsamen Arbeit und einer fruchtbaren Freundschaft hat sich aufgelöst, die Spuren wurden im Sande verweht.
Und ich denke an dich: Mit Vehemenz bist du auf diesen Moment zugegangen, hast alle Schranken überwunden und fragst dich jetzt, ob du weiter gehen möchtest. Die Kraft, mit der du bis zu diesem Punkt gekommen bist schwindet – es sind neue und andere Ressourcen, die nun gefragt sind. Ich glaube schon, dass du sie aufbringst, aber ich glaube auch, dass sich dein Leben ändert – und zwar kräftig.
Und meine innere Reise durch mein Netzwerk geht weiter. Spurensuche, hie und da ein Fünkchen Gold, aber auch Traurigkeit. Fragen und Gedanken entstehen; Blickwinkel und Perspektiven ändern sich; Nähe und Distanz wird spürbar; Wünsche und Hoffnungen regen sich. Ich sitze noch immer allein an meinem Tisch. Aber es ist warm geworden. Den Verbindungsspuren meines Herzens durch das Land und auf der Erde zu folgen, bringt ein Gefühl des Aufgehoben-Seins im Allein-Sein.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin