Wenn ich auf sie schaue, sehe ich eine kleine und energievolle Frau vor mir. Ihre Hände sind zierlich und tätig. Vor vielen Jahren trug sie Ringe, goldene, mit blauen oder türkisfarbenen Steinen. Daran erinnere ich mich noch. Aber diese Ringe hat ihr jemand entwendet, als sie sie beim Töpfern auf einen kleinen Ringständer steckte. Es waren Erbstücke. Ob sie jetzt Ringe an ihren Händen trägt weiß ich gar nicht.
Ihre Brille trägt sie stets auf der Nase – damit sie das Leben gut sehen kann –, manchmal schief und hie und da will man ihr gerne ein Tüchlein reichen, damit sie geputzt werden könne. Ihre Kleidung ist meist in natürlichen Farben gehalten, bevorzugt in orange oder in sandiger-erde. Leinen weht ihr um die Schultern, manchmal auch Seide. Immer phantasievoll und mit Ketten aus aller Herren Länder geschmückt. Ihre Hände dürfen aber nie durch einen zu langen Ärmel bedeckt werden, das mag sie nicht.
In ihrer Wohnung gibt es viel zu sehen – von jeder Reise wurde etwas mitgebracht, mit eigener Hand. Ob Gebrauchsgegenstände wie Geschirr oder Tischdecken, oder Unikate, die an der Wand hängen oder auf dem Tisch stehen. Steine, Hölzer, Muscheln – auf der Suche nach etwas Urigem oder Originellen ist man in dieser Wohnung richtig. Man wird kaum etwas finden, was aus einem gewöhnlichen Kaufhaus stammt.
Bilder hängen an den Wänden, mit eigener Hand gemalte und fremde. Individuell gewählt, speziell positioniert und immer mit Geschichte. Ergänzt werden die Bilder durch eine Bücherwand, die die Kunstbände der Welt umfassen. Hier gibt es alles zu finden, was einen Künstler interessiert, was mit Händen gestaltet und gemalt wurde.
Originalität steht an oberster Stelle, das Eigene, Individuelle. Nichts lässt sich über einen Kamm scheren. Und so ist sie auch ihren Lebens-Weg gegangen, auf ihren kleinen Füßen, mit ihren kraftvollen Händen. Im Krieg geboren, immer wieder vertrieben worden, von Ort zu Ort – ein „Abenteuer“ als Kind, wie sie selbst es nennt. Ihre Mutter, ledig und bei ihrer Geburt bereits über vierzig Jahre alt, hat es ihr vorgelebt. Und dennoch, die Mutter, noch aus dem 19. Jahrhundert, hielt trotz allem an alten Werten fest, das war für die Tochter eine Erzählung aus einer alten Welt. „Heimat“ als vergangene, immaterielle Idee, mit Händen schwer zu fassen.
Und obgleich sich in ihrer Wohnung Fotos aus alten Zeiten finden lassen, Bilder ihrer Eltern und anderer Verwandter aus der alten Heimat Estland, ist es doch die Zukunft, auf die alles ausgerichtet ist. Einen Festpunkt in der Vergangenheit gibt es nicht, selten einen Blick zurück – was auf der Hand liegt ist die Gestaltung des Kommenden, damit lässt sich etwas unternehmen.
Und so hat sie sich ihr Leben lang für die Dinge eingesetzt, die es zu verändern, zu verbessern galt – die einfach vor ihr lagen. Ob in der Erziehung der eigenen Kinder, vorhandener Schulstrukturen, gesellschaftspolitischer Belange oder im Zwischenmenschlichen. Wichtig war immer, was mit eigener Hand vollbracht werden konnte – und dies: immer ein künstlerischer Prozess.
Ich glaube, dass sie Leere und Depression nicht kennt, alles was für sie erreichbar ist, nimmt sie in die Hand – alles andere spielt sich auf Ebenen ab, zu denen sie nicht unbedingt einen Zugang hat. Darum wird die Herausforderung für die Zukunft auch sein: etwas aus der Hand geben, etwas ablegen. Und später dann, im hohen Alter, kommt möglicherweise ein Sich-an-die-Hand-nehmen-lassen falls ihr der Alltag dann nicht mehr so einfach von der Hand geht.
Hände sprechen die Sprache des Lebens, sie zeigen, was in siebzig Jahren angefasst wurde, und weisen in die Zukunft, in der Dinge warten, die in die Hand genommen werden wollen. Diese kleine Frau, die meine Mutter ist, hat energievolle Hände, mit denen sie kraftvoll durchs Leben geht. Ich bewundere das sehr.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
Jeder Mensch hat seine Geschichte und es ist eine Kunst wenn jemand das Edle von eine andere Person inszenieren kann. Das kannst du Sophie und es ist ein Geschenk. Liebe Grüsse auch an deiner Mutter und ein schönen Sommer wünsche ich dir.
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