Sonntag, 11. September 2011

Und wieder Parzival. Na und?

Die Frage, ob Parzival für die Deutschen steht, ist müßig. Nachdem die Geschichte von Perceval durch den altfranzösischen Dichter Chrestien de Troyes an Wolfram von Eschenbach gelangt war, wurde sie in mittelhochdeutscher Sprache niedergeschrieben. Die deutsche Kultur ist auch heute noch stolz auf das große epische Werk und präsentiert es gerne. Es ist kein ausgesprochen „deutscher Weg“ den Parzival geht, nein, es ist ein mitteleuropäischer – würde ich sagen. Als ich die Geschichte mit 17 Jahren zu ersten Mal las, spürte ich eine Zuneigung zu dem Netzwerk um Parzival, zu dem Geschehen als solchem und vor allen Dingen zu den besonderen Namen all der verschiedenen Figuren.

Lange Zeit stand für mich der Umstand, dass Parzival immer wieder eine neue Chance bekommt, obwohl er sich so oft etwas zuschulden kommen lässt, im Vordergrund. Sein Lebensweg ließ sich durch die Geschichte verfolgen, seine Fehltritte beklagen und am Ende die Gralskrönung mitfeiern. Parzival wurde, obwohl im Mittelalter geschrieben, der Inbegriff einer modernen Biographie in der Neuzeit, zu der das Dunkle, das Böse, das Falsche und das Unmoralische dazugehören.

Wenn man die Erzählung in Krisenzeiten zu Rate zieht, kann sie Hoffnung, Einsicht und Durchhaltevermögen schenken. Denn, unwiderlegbar, Parzival hat es – am Ende! – doch noch geschafft. Wenn es stimmt, dass seine Biographie exemplarischen Charakter hat, dann frage ich mich manchmal, an welcher Stelle ich mich gerade befinde. Habe ich etwas „falsch“ gemacht, geht es „wieder“ abwärts? Oder habe ich etwas verstanden und es geht einen kleinen Schritt aufwärts? (Auch interessant wäre es, die deutsche Geschichte auf das Parzival-Geschehen zu übertragen. An welcher Stelle könnte man den Holocaust ansiedeln? Und, gelingt so ein Weg tatsächlich „immer“ – führt er „immer“ zur Versöhnung?)

Heute stehen für mich in Bezug auf die exoterische Parzival-Geschichte nicht mehr so sehr Fehler und Wiedergutmachungen im Vordergrund, sondern die „Möglichkeit“, die sich auf esoterischer Ebene anbietet, und die mich durch ihr Angebot fasziniert:

Parzival beschreitet – exemplarisch – seinen Lebensweg, der ein Einweihungsweg ist. Das Ziel diese Weges ist: individuelle Freiheit und geistige Autonomie zu erringen. Geistesgeschichtlich betrachtet ist es der erste Gralshüter „Titurel“, der der Träger dieses Impulses für die Menschheitsentwicklung ist, und sie vom alten Priesterkönig Melchisedek übernommen hat, und der sein hohes Amt nun, am Übergang von den alten zu den neuen Einweihungen, an „einen“ Schüler weitergibt, der sich Parzival nennt. Parzival wird Träger seiner Fackel.

Ich erinnere an die Erzählung: Parzival kommt nach seinem langen Weg ein zweites Mal in die Gralsburg. Diesmal wird er von Kundry, der Gralsbotin, geführt. Auch Feirefiz, sein heidnischer Bruder ist dabei (was schon an sich eine unglaubliche Erneuerung ist!). Auf esoterischer Ebene wird beschrieben: Als Parzival dem alten Greis Titurel gegenübersteht, verschwindet für ihn die ganze Welt. Stattdessen wächst ein pflanzenartiges Gebilde, einem Baum ähnlich, immer größer und schneller heran. Es ist der Lebensbaum, der schließlich den ganzen Raum erfüllt. Im Vordergrund erscheint eine Lilie, eine weiße Lilie, die einen übelriechenden Geruch verströmt.

Für Parzival ertönt die Stimme von Blanchefeur: „Das bist du!“

Die Lilie stellte alle Eigenschaften dar, die Parzival mit Hilfe der Götter aus seiner Seele vertrieben hatte, die aber noch nicht gänzlich verschwunden waren, die innerlich noch nicht verarbeitet und transformiert worden sind. Leidenschaften und Schmerzen sind unmittelbar erlebbar. Das ist ein schockierendes Erlebnis für Parzival. Nach dieser Erkenntnis verschwindet alles. Finsternis umgibt ihn. In der Dunkelheit entsteht etwas Neues: eine rote Rose erscheint an einem schwarzen Kreuz.

Und die Stimme von Flos ertönt: „Das werde du!“

Parzival sieht das tödliche schwarze Kreuz. Er sieht die spitzen Dornen. Und er riecht den wunderbaren Duft. Er versteht: Er muss noch einmal beginnen. Ohne die Hilfe der Götter. Er muss sein niederes Ich an das schwarze Kreuz schlagen und Christus in seinem Sterben am Kreuz folgen. Erst dann kann er individuelle Freiheit und geistige Autonomie erringen.

Gerade an der Stelle, an der die exoterische Geschichte mit der Gralskrönung des „tumben Toren“ endet, beginnt der esoterische Weg. Ist die Menschheit (die mitteleuropäische?) auf ihrem irdischen Weg, durch Fehler, Schuld, Mord und Unmoral, nun am Tor der geistigen Einweihung angelangt, um von einer weißen Lilie zu einer roten Rose zu werden?

Die vielfältigen Lebensbeziehungen laden zu dieser Transformation ein. Es heißt, dass es heute keine geheimen Einweihungsorte mehr gibt, sondern sich jeder Bahnhof dafür zur Verfügung stellt. Jeder kleine Blumenladen an der Ecke hat Lilien und Rosen. Und die menschlichen Bezüge bieten das Material für die Transformation: die verwandtschaftlichen Verbindungen, die jeder von uns hat, die freundschaftlichen, die funktionalen, die gesellschaftlichen, legalen, illegalen und geistigen. Jeder von uns kennt freie und unfreie menschliche Verbindungen, gewollte und ungewollte, glückliche und unglückliche – bewusste und unbewusste. Das mehrdimensionale Netz von menschlichen Bezügen ist das Einweihungsmaterial für jeden Parzival von uns.

Die Hoffnung, dabei zur Rose zu werden, ist ein schönes Ziel.

1 Kommentar:

  1. Na und Parzival !

    Rose = Individuelle Freiheit + geistige Autonomie

    Die Frage stellt sich: Was erwarte - ICH - unter dem Rosen ~ Dasein ?

    Danke liebe Sophie für die Anregungen!

    Herzliche Grüße von Katharina

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