Was mich an vielen toskanischen Städten wie Firenze, Siena, Arezzo oder Pisa fasziniert, ist die bewahrende Haltung, die überall zu spüren ist: Es gab mal eine große Zeit in Italien… und die wird bewahrt. Bis heute, und vermutlich auch darüber hinaus. Es gab einmal eine Zeit, in der die Gegenwart gegenwärtig war. Als aus der Vergangenheit heraus die Zukunft gestaltet wurde. Das waren lebendige und aufstrebende Zeiten, die sich in der Kunst, der Stadtplanung und dem Bild des Menschen mit all seinen Möglichkeiten ausdrückte. Kurz, als der Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit vollzogen wurde.
In der Renaissance erinnerte man sich an die Wurzeln in der Antike und schuf aus der Verbindung etwas Neues: den Menschen, der zum Schöpfer seines eigenen Lebens wurde. Die Künstler begannen zum Beispiel ihre Werke zu signieren, persönlich Verantwortung zu übernehmen und sich von Kollegen zu unterscheiden. Wer heute in die toskanischen Städte reist, kommt nicht darum hin, seinen Blick auf die Werke aus der Renaissance zu werfen. Und die Italiener sind noch heute stolz darauf, was ihre Landsleute einst vollbracht haben.
Die Renaissance war eine große Zeit. Ist Italien heute ein Land der Vergangenheit? Ein steinernes Mahnmal der aufstrebenden Kräfte von damals? Wo sind die Kräfte heute, wo wird nun an der Zukunft gebaut? Wo bündeln sich die Kräfte, so dass ein weiterer Bewusstseinssprung gemacht werden kann?
Als ich in diesem Sommer in La Verna war, dem Ort, an dem der Hl. Franziskus seine Offenbarung hatte, habe ich eine skurrile Situation erlebt. Mit vielen anderen Touristen lief ich den Rundgang durch die Gemäuer auf dem Berg. Die Italiener um mich herum palaverten laut und gestenreich. Von heiliger Stille war nichts zu erleben. Auf einmal wurde ich auf zwei schmale Türen aufmerksam, die direkt nebeneinander in einem langen Gang auftauchten. Die obere Hälfte war jeweils aus Glas, so dass jeder, der hinschaute auch sah, was sich dahinter (nicht) verbarg.
Es war ein Beichtstuhl. Getrennt durch eine vergitterte Trennwand. Und auf der einen Seite saß ein dunkel gekleideter Mönch, auf der anderen Seite eine junge, elegante Frau mit langen blonden Locken. Ich sah, dass die Frau mit gesenktem Haupt sprach und der Geistliche auf der anderen Seite zuhörte. Ich nahm an, dass sie beichtete und er ihr die Absolution erteilen würde. (Und die Touristen schauten durch die Glastür dabei zu.)
Mir sprang unmittelbar ins Bewusstsein, dass dieses Vorgehen zwar immer noch ein menschliches Bedürfnis ist, in seiner Art aber vollkommen verfehlt praktiziert wird. Die Zeit, in der sich ein Individuum über ein anderes „erheben“ und jemanden von seinen Verfehlungen freisprechen kann, ist meines Erachtens absolut vorbei.
Was heute zeitgemäß ist, ist eine „soziale Beichte“. Ist das offene und gleichzeitig sehr intime Gespräch mit dem oder den Mitmenschen. Zum einen braucht es eine kleine Gruppe von Menschen, die sich dafür öffnen, demjenigen, der sich zeigt, zuzuhören. Und zum anderen ist das, was „früher“ die Absolution eines Geistlichen war, der eigene „Lern- und Verwandlungsprozess“ geworden. Dafür braucht es einen geschützten Raum (das eigene Lebensumfeld), der heute zu jedem Zeitpunkt unseres Alltagslebens und an jedem Ort geschaffen werden kann.
Wenn wir uns als Menschen mit unseren Stärken und Schwächen nicht mehr voreinander verstecken, sondern uns für zwischenmenschliche Begegnungen bereitmachen, entsteht ein Raum, der uns in die Zukunft führt. Der eine neue „heilige Kathedrale“ zwischen mir und dir (Emmanuel Lévinas) entstehen lässt, in der Kerzen entzündet werden können und ein jeder Asyl findet, der darum bittet.
Vielleicht ist die Zeit vorbei, in der ein Volk oder ein Land zu einer Hochkultur avanciert, die wir mit Jahreszahlen und auf der Landkarte verorten können. Ich bin überzeugt davon, dass die Zeit begonnen hat, in der die Zukunft eine Hochkultur hervorbringt, die zwischen mir und dir entsteht. Kathedralen werden zwischenmenschlich entstehen und Bußvorgänge (wenn sie dann noch so heißen) werden zu Anteilen des sozialen Lebens.
Ich kenne einige Gruppen, in denen die Wege erkundet werden, auf denen eine erneute Renaissance des Menschen stattfinden kann – vielleicht ohne Steinbauten die noch nach Hunderten von Jahren angeschaut werden können, sondern auf ätherischen, zwischenmenschlichen Ebenen, die freie Individuen unterstützen, ihre eigene Biographie – in einem sozialen Kontext! – zu gestalten.
(Ich denke zum Beispiel an die Arbeit von Bernard Lievegoed, an die Elias-Initiativgemeinschaft, an Adventura, an die Arbeit von Coenraad van Houten, an NALM www.nalm.net )
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
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Hilde Domin
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