Freitag, 18. Februar 2011

Einzelzimmer und Matratzenlager. Schlaf, Tod und Körper

Neulich habe ich einen Satz gelesen. Bei Juli Zeh. Er lautet: „Was Schlaf und Tod miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass beide für ihre Gäste nur Einzelzimmer bereithalten. Man kann niemanden mitnehmen.“ Das hat mich getroffen. Nicht, weil ich es nicht „gewusst“ hätte, nein, diese Tatsache ist ja irgendwie bekannt. Aber diese Lockerheit, mit der dieser Satz mitten in einem Roman steht, die Wortwahl, die ein Wellness-Hotel evoziert, Sachlichkeit und Tragik miteinander vereinend, macht die unüberwindlichen Schranken sichtbar. Zwischen Leben und Tod, zwischen schlafen und wachen, zwischen mir und dir. Auch wenn ich mein Leben mit anderen Menschen teile, sogar das Bett, so schläft und stirbt doch jeder für sich allein.

Ein Gast ist man auf Zeit. An- und Abreise gehören zum Gast sein dazu. Lediglich variabel ist die Dauer des Aufenthalts. Um auf der Erde zu leben brauchen wir einen Körper. Übrigens auch ein Einzelzimmer. Besuch zu empfangen ist kurzzeitig möglich. Mehr aber auch nicht. Jede Nacht tauchen wir für viele Stunden in das ein, was wir Schlaf nennen. Und wenn unser Schlaf gestört oder unterbrochen wird – jenes „In-meinem-Einzelzimmer-sein“ – sind wir morgens nicht glücklich, manchmal für den Tag im Gruppenzimmer nicht so gut gerüstet.

Einen Körper zu haben, jede Nacht in Schlaf zu versinken und irgendwann dem Tod gegenüber zu treten – um einmal wiedergeboren zu werden, wieder zu kommen – nennen wir Leben. Als Menschen auf der Erde leben. Der Kontrast zwischen einem Alleinsein, einem Für-sich-sein, ganz für mich und bei mir sein, mich in meinem eigenen Einzelzimmer aufhalten und den „Belangen der Welt“, könnte nicht größer sein. Die Belange der Welt, der Anderen, die mitmenschlichen Notwendigkeiten, die Bedürfnisse zusammen und eben nicht allein zu sein, gemeinsam etwas zu tun, zu erreichen und hervorzubringen, sind allgemein menschliche Bedürfnisse, die wir alle kennen.

Die Welt ist voller Einzelzimmer. Manche befinden sich nebeneinander, übereinander, einander nah oder eben fern voneinander. Sinn macht die ganze Sache erst dann, wenn wir in der Lage sind, das gesamte Gebäude zu betrachten, die Beschaffenheit zu durchdringen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu benennen – möglicherweise umzubauen und Ziele zu verfolgen. Äußere und innere. Wie sind eigentlich die verschiedenen Einzelzimmer beschaffen, wie sind sie eingerichtet? Einen Blick kann man ja mal hineinwagen. Und wie sehen die Fenster der verschiedenen Zimmer von außen aus? Haben sie Vorhänge, sind sie offen oder verschlossen, sind sie vielleicht bemalt?

Es heißt, dass es abgesehen von unserem Körper auch eine Seele gäbe. Und einen Geist. Und dass die beiden sich freier bewegen könnten. Des nachts oder nach dem Tod dem Einzelzimmer entweichen können, um Ihresgleichen zu treffen. Sie können aus- und eintreten, Neues mitbringen und Altes wegschaffen, frischen Wind wehen lassen. Sie nehmen Anteil an dem ganz großen Hotel, an jenem, welches Erde oder Welt heißt, so wie an jenem, das wir das unbekannte Dunkel nennen, den unausweichlichen Zwischenraum.

Gerade das, was die Erde voller Einzelzimmer ausmacht, diese Ansammlung von abgeschlossenen Individuen, denen Schlaf und Tod anheimgestellt sind, hat die geistige Welt nicht zu bieten. Das sieht nur von der Erde aus gesehen so aus, bezieht sich nur auf die Übergänge. Dort gibt es auf geistiger Ebene nur einen Gruppenraum, ein großes Matratzenlager – kein Zimmer, das man für sich allein beziehen könnte. Hier läuft alles ineinander über, hier sind die Verbindungen evident, die Löcher und Gefahren dringend. Hier werden neue Vorhaben geknüpft, Verabredungen getroffen, Entschlüsse gefasst – die dann auf der Erde, im Halbdunkel und im Kampf mit dem Einzelzimmer ausgetragen werden. Erfahrungen können wir nur im Einzelzimmer machen, nicht im Matratzenlager – dort nennt man so etwas Einsichten.

Und auch für den Schlaf gilt, dass wir uns zwar von der Erde und unseren Mitmenschen aus gesehen in einem verschlossenen Einzelzimmer befinden – vom großen Ganzen aber aus betrachtet, aus dem großen Gruppenraum Nahrung holen. Geistige Nahrung – um für den Tag im irdischen Einzelzimmer gerüstet zu sein. Und wenn wir einander dann am Morgen fragen, wie wir geschlafen haben und wie es uns geht, fragen wir nach der Beschaffenheit des entsprechenden Einzelzimmers.

In diesem Sinne: „Wie geht es euch? Wollen wir zusammen etwas unternehmen?“

Juli Zeh: Schilf. btb-Verlag, 2009. S. 374

6 Kommentare:

  1. Liebe Sophie ! Man merkt, dass wir nicht mehr in den besonderen Tagen und Nächten der Jahreszwischenzeit sind. Das Leben und die Arbeit und die Anforderungen ziehen viele Kräfte; und vielleicht ist es deshalb zu schwierig, uns wieder "zusammenzufinden" aus unseren Einzelzimmern, um ins GEspräch zu kommen auf dem Hintergrund deiner schönen Texte und Gedanken und FRagen. Ich will unbedingt noch auf deinen letzten Beitrag antworten, aber dazu brauche ich eigentlich etwa MUße....
    JA, ich würde gerne etwas zusammen unternehmen. Vielleicht könnten wir uns einfach kleine Erlebnisse aus unserem Alltag berichten, so wie man es in einem Tagebuch tut. ZUsammen ergibt das dann vielleicht ein buntes KAleidoskop von Geschichtchen, mit denen wir uns besser kennenlernen können. Wie von selber werden sich daraus vielleicht dann "Themen" entwicklen, die für die Menschen, die regelmäßig aus ihren Einzelzimmern auftauchen, um sich im Gruppenzimmer zu versammeln, von Bedeutung sind.
    Heute ist ein ganz normaler Samstag. Ich muss einiges für meine Arbeit vorbereiten, aber das kann ich zu Hause tun. Ein wenig kommt die Sonne heraus, und bringt den kleinen Blumenstrauß, den ich zum Widereinstieg in meine Arbeit geschenkt bekommen habe , zum Leuchten.
    LIebe GRüße
    Anna

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  2. Liebe Anna, magst du ein wenig mehr von dir, aus deinem Einzelzimmer erzählen? Wer bist du? Ich lese deine Kommentare gerne und habe ein vertrautes Gefühl dabei. Ja, es wäre schön, in einen Austausch zu kommen! Herzlich, Sophie

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  3. Beim Lesen des Tekstes von 18-2 erlebe ich Freude.
    Vielen Dank.

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  4. wolfkollmann@libero.it20. Februar 2011 um 23:01

    Ich möchte mich für eine Schülerin vorbereiten, sie schreibt ihre Jahresarbeit, sie erfindet schreibend einen neuen Stil. Ich bin berührt einer Schriftstellerin begegnen zu dürfen. Jetzt ist sie im Schreiben an einen toten Punkt gelangt, sie sucht nach dem Weg, sie fragt, wo es weiterführt und bittet mich um Hilfe. Ich werde die Frage bewusst in meine Nacht nehmen. Die Zeit ist knapp, ich möchte sie nicht auf falsche Fährten führen. Die Zeit ist kostbar, ich fühle ich mich als Lehrer gescheitert. Ich schaue die Dinge und sehe weiter als deren Rand, als deren Manifestation, ich bin dankbar, für die Mühe, das intensive Zuhören, für das Verzweifeln, den schweren Gang, das viele Nachdenken, für den Versuch im Bild zu schauen. Plötzlich, ich stehe morgens auf, eine anstrengende Woche liegt hinter mir. Und bemerke vieles neu, noch nicht gesehen, ich erkenne, dass ich geübt habe, im Leben, die Vorurteilslosigkeit ist, ohne es zu wollen, in mein Leben getreten. Nüchtern registriere ich dies und weiß um das Warum. Vieles im Leben geht eben verkehrt bei mir. - Sophie, mir gefällt dein Mehrfamilienhaus, dein Bild einer nächtlichen Kommune, da möchte ich beiwohnen! Schön auch, den vertrauten Wortstimmen aus dem Weihnachtsblog wieder zu begegnen.

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  5. Liebe Sophie, danke für deine liebe Einladung. Wir wollen uns zu einem schönen Tee treffen in einem der Gruppenzimmer, und ich werde dir eine Rose mitbringen. Heute oder morgen werde ich ein wenig zum Schreiben und Sinnen kommen!!!!Ja, ich freue mich, dass die Zimmer sich wieder neu heimelig anfühlen wollen . Heute morgen bin ich so voller Gefühle und tappe in der Küche herum, ohne mich hinsetzen zu können. Eine leise zärtliche Nacht liegt hinter mir, doch mein Freund ist nun gegangen, und das ist immer ein schwerer Abschied. Lieber wolf, ich wünsche dir ein schönes Weitergehen in der Beratung. Zeit ist genug da, immer !!! Liebe Grüße an alle - Anna

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  6. Liebe Sophie ! Nun sind in diesen Tagen so viele tiefgehende GEfühle gewesen, dass ich zu dem Besuch bei dir noch nicht gekommen bin. DIe Rose steht aber schon in der VAse. Sie ist von einem zarten Orange, mit feinen weißen Rändern wie von einer winzigen Häkelborte. Bitte habe noch ein wenig Geduld. Ich komme gewiss. Liebe Grüße -Anna

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