Freitag, 4. Februar 2011

Anna und ihre Erzählerin im Zug. Fragensammlung II

Anna steigt in den ICE ein und will sich einen Platz suchen. Rechts sitzt eine alte Dame, die nervös in einer Illustrierten blättert. Sie hat ein faltiges Gesicht, geschminkte Lippen und eine Dauerwellenfrisur. Ob sie ihren Sohn besuchen fährt, der ans andere Ende Deutschlands gezogen ist, um ihr zu entfliehen? Anna sieht nur das Äußere der Frau und geht weiter. Der Zug ist nur mäßig besetzt. Dort vorne, am Vierertisch sitzt ein junger Mann. In zerrissener Jeans und mit einem großen Rucksack auf dem Nebensitz. Das Klischee eines jungen Mannes also, der für seine Ideale noch mit schwerem Gepäck durch die Lande zieht. Ob er mit einem Billigticket reist und auf dem Weg zu einem Widerstandscamp ist?

Anna weiß nicht, wohin sie sich setzen soll. Das behauptet zumindest ihre Erzählerin – die in dieser Hinsicht Gewalt, Kraft und Verfügung über sie hat. Sie ist es, die ihr Leben einhaucht, ihr Leben verzerrt oder geraderückt – sie ist ihr literarisches Sprachrohr und diejenige, die sie diesen oder jenen Weg entlang schickt. (Warum kann Anna nicht selber sprechen, nicht machen was sie will?) Dort vorne sitzen zwei Geschäftsfrauen mit Laptops, Handys, lackierten Fingernägeln und wichtigen Gesichtern – offensichtlich vertrauen sie sich gerade Heimlichkeiten der letzten Nacht an. Die beiden Damen sind Frauen, die sich auf der Bühne der Gesellschaft bewegen – oder zumindest so tun. Ob auch sie unbeantwortete Fragen in ihrem Herzen tragen?

Anna bleibt stehen. Der Zug hat mittlerweile ein schnelles Tempo erreicht und ruckelt nur noch sanft. Sie ist noch immer unschlüssig. Sie blickt über die vereinzelt sitzenden Reisenden – niemand will hier etwas mit jemand anderem zu tun haben, jeder allein sitzende Reisende stellt demonstrativ seine Tasche auf den Nachbarsitz, damit ja niemand auf die Idee kommt, sich zu ihm zu setzen – und weiß nicht, wo ihr Platz ist. Ganz wie im Leben. Sie kann sich überall hinsetzen. Die Gesichter, deren Antlitz sie gestreift hat, sind in sich gekehrt. Auf die eine oder andere Weise. Das harmlose Lächeln nach außen ist die bohrende Frage nach innen.

Innen und außen trennt eine Schwelle. Manchmal ist sie unüberwindbar. Anna steht noch immer im Gang des Wagens 28 und fährt in ihre Zukunft hinein. Mit Volldampf. Die Erzählerin gibt die Hoffnung nicht auf, dass sie einen Platz annimmt, sich hinsetzt und sich endlich zurücklehnt – nach diesem Tag. Schließlich gäbe es doch für Anna über eine ganze Menge nachzudenken, Entscheidungen zu treffen. Die Sitze bieten sich alle in der gleichen unbeteiligten Art und Weise an – sie sind blau. Aber es ist ihnen offensichtlich egal, ob sie besessen werden oder nicht.

Als die Erzählerin ihre Aufmerksamkeit wieder auf Anna lenkte, war sie in ein Gespräch vertieft. Mit einer Querflötistin, das war ihr anzusehen – jedenfalls zu vermuten. Anna sprach eine Sprache, die die Erzählerin nicht verstand. Unmissverständlich versuchte sie ihre Aufmerksamkeit zu erregen, um ihr irgendwie begreiflich zu machen, dass sie die Sprache wechseln solle, damit sie etwas verstünde… aber ihr Mut schwand, sobald sie sah, in welchen Gesprächsraum Anna mit der Unbekannten getreten war. Da würde sie nicht hineinkommen. Diese Schwelle war unübersehbar unüberschreitbar.

Sie wandte sich ab. Ein wenig beleidigt. Auf sich selbst zurückgestoßen. Die Erzählerin setzte sich ins Bordbistro und schloss die Augen. Der Duft nach Schweineschnitzeln ließ sich ignorieren. Aber die nagende Sehnsucht nach Nähe nicht. Anna hatte sich von ihr abgespalten. Sie konnte sie auf dieser Fahrt nicht mehr erreichen. Und deshalb entschloss sie sich, am nächsten Bahnhof ohne sie auszusteigen.

• Fragen nach außen:
Wer ist Anna und wie sieht sie aus?
Was bedeuten Zugfahrten?
Sind gemeinsam Reisende Schicksalsgenossen?
Ein Bordbistro – auch ein Mysterienort?
Warum gibt es verschlossene Mitreisende?

• Fragen nach innen:
Was passiert, wenn ich im fahrenden Zug in die Gegenrichtung laufe?
Warum will ich Anna nah sein, was hat sie mit mir zu tun?
Weiß ich, warum ich bestimmte Dinge tue und bestimmte Dinge nicht tue?
Wie geht es mir heute eigentlich?
Was sagen mir die vielen Gesichter, die ich sehe?

• Fragen der Erzählerin:
Was passiert, wenn ich Anna in meiner Erzählung ignoriere?
Und wie wird sich Anna aufführen, wenn sie wieder mit mir spricht?
Wer gehört zu Anna, wer fehlt?
Warum fährt Anna überhaupt mit dem Zug, wohin ist sie unterwegs?
Wie ist Anna in mein Leben gekommen und was will sie dort?

• Fragen von Anna:
Warum soll ich die Fragen der Erzählerin beantworten?
Wie halte ich mein Geld zusammen?
Mein rechter Fuß ist kalt, warum mein linker nicht?
Werde ich rechtzeitig ankommen, werde ich genügend Zeit haben?
Habe ich den Brief tatsächlich abgeschickt?

1 Kommentar:

  1. Liebe Erzählerin ! Ich danke dir für deine Geschichte. Die Geschichte, dass du mit deiner Figur in den Zug des Lebens steigst, dass du sie begleiten und erkennen kannst, beobachten und auch bewerten, und dass sie dir dann abhanden kommt...Vorher allerdings hattest du dich aus einem nicht erklärten Grund mit eitwas anderem beschäftigt und ihr damit die Gelegenheit gegeben, sich zu entscheiden. Das interne Gespräch mit einer Musikerin. Die Sprache, die dann so anders ist, dass du dich erst einmal mit der Enttäuschung abfinden musst. Nein, steige nicht ohne sie aus! Sprich sie an und frage sie, ob sie mit DIR den Tag verbringen mag ! Dann könnt ihr in einer Sprache miteinander kommunizieren, die du mitbestimmst.
    Mich wird diese GEschichte begleiten, die mir sehr gefällt. Es gibt so so so vieles dazu zu sagen.
    Dieser Tag ist auch ein Unterwegs im Zug, und ich will sehen, zu wem ich mich setze auf einen der blauen Sitze.
    Liebe Grüße
    ANNA.

    AntwortenLöschen