Der warme Sommermorgen wurde von stillen Sonnenstrahlen umringt. Die prächtigen Gebäude machten weiterhin sichtbar, dass sie zwar noch stünden, aber einer liebevollen Restaurierung bedürften. Die Zeit ist stehengeblieben. Hier und da fällt ein Stück Putz von einer Fassade ab, Vögel landen auf dem Fußweg und picken etwas auf, Mülltonnen stinken vor sich hin. Das Licht mahnt Vergangenes an.
Vor siebzig Jahren stand die Stadt in Feindesland. St. Petersburg. Erbitterte Kämpfe brachten die Menschen zu Fall. Leid, Angst, Elend und Bitterkeit beherrschte die Menschen. Der Tod wütete überall. Die Deutschen waren es, die den Krieg anzettelten. Und sich später schuldig bekannten. Gelitten haben alle.
In jedem Geschichtsunterricht werden die verwirrenden Fakten besprochen, die verworrene Lage klargestellt und die Verantwortung deutlich gemacht. Es dauerte eine Weile, bis sich die Deutschen wieder zeigen konnten, bis sie zu einer – ihrer? – Identität zurückfanden. Bis sie wieder locker bekennen konnten Deutsche zu sein. Trotz der historischen Schuld.
Anna ist lange nach dem Krieg geboren worden. In aufgeklärtem Elternhause aufgewachsen. Sie läuft die alte Straße entlang. Am Sonntagmorgen, im stillen Sonnenschein, mit den übel riechenden Mülltonnen auf den Bürgersteigen. Sie sucht ein Haus. Obgleich es auch in ihrer Familie Opfer, Entbehrung und Leid gab – die Heimat musste verlassen werden, Grund und Besitz gingen verloren und es gab Tote zu beklagen – Nazis kannte sie nur aus Erzählungen, aus der Geschichtsbetrachtung eben.
Manchmal fragt sich Anna, warum sie sich in Deutschland inkarniert hat, warum sie eigentlich Deutsche sei. Da sie weder Schmidt, Schulze, noch Müller oder Meyer hieß, lud ihr Nachname oft dazu ein, sie für eine „Ausländerin“ zu halten. Wo sie herkäme, ob sie Deutsch verstünde oder sogar spräche… diese Fragen und Annahmen kannte sie. Und das hinterließ jedes Mal eine tiefe Verwirrung in ihr. In diesen Momenten fühlte sie sich sehr deutsch. Und zugleich in Frage gestellt.
Anna läuft betrachtenden Schrittes die Straße entlang. In St. Petersburg. Sie ist eine Touristin. Eine interessierte Mitbürgerin. Fühlt sich als verantwortungsvoller Mitmensch im 21. Jahrhundert. Sie sucht das Besatzungsmuseum. Auch dies: ein dunkles Kapitel der Geschichte. Die Deutschen haben im Zweiten Weltkrieg die Stadt 900 Tage belagert. Ausgehungert. Entsetzliches Leid ist damals geschehen.
Das Museum ist von außen kaum zu erkennen. Auch hier: bröckelnde Fassaden, eine vernachlässigte Gegend. Aber die Sonne scheint warm auf alles herab. Das Schild ist klein und nur in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Wie bekannt ist es eigentlich, dass es eine Belagerung der Deutschen gab, und dass es heute dieses Museum gibt? Zukunft braucht Erinnerung.
Anna tritt mit ihrem Begleiter in den Eingang des Museums. Alles ist hier vollgestellt. Die Luft ist trocken, muffig und alt. Bruchstücke von Bomben, Granaten, Panzern und Gewehren bilden den Empfang. Ob das nun russische oder deutsche Geschütze sind, lässt sich auf die Schnelle nicht feststellen. Auf den riesigen Bildern aber, die die Wände zieren, lassen sich Generäle der Roten Armee erkennen. Der starke Russe ist deutlich präsent.
Die beklemmende und zugleich verstaubte Atmosphäre wird von einer munteren Russin durchbrochen. Sie kommt strahlend auf Anna und ihren ebenfalls deutschen Begleiter zu. Sie spricht Russisch, Deutsch und Englisch zugleich. Ein Kauderwelsch, von dem sich nicht alles, aber doch einiges verstehen lässt. Anna begreift, dass die Russin selber Zeugin der Belagerung war. Ein hungerndes, verängstigtes, verlassenes Kind damals. Sie hat überlebt. Und will nun zeigen was damals war.
Plötzlich fragt die Russin, ob die beiden aus Kanada, Amerika oder England seien. Und Anna antwortet blitzschnell, dass sie Engländer seien…
Was ist in diesem Moment passiert, in dem die Vergangenheit plötzlich zur Gegenwart wurde? Beklemmende Betroffenheit überhandgenommen hat. Hat sich Anna mit der Schuld der vorangegangenen Generationen identifiziert – und gleichzeitig mit der Last dieser Schuld nicht mehr gerade stehen können? Warum verleugnet sie sich – so plötzlich? Welche Identität präsentiert sie als Teil deutscher Geschichte?
Neulich hat mir eine Freundin, die vornehmlich in der französischen und englischen Sprache lebt, mit mir aber Deutsch spricht, gesagt, dass man auf Deutsch nicht lügen könne, weder grundlos noch galant, dass diese Sprache auf einer Wahrhaftigkeit bestünde, die es nicht möglich mache – ganz anders offensichtlich als im Französischen oder Englischen – etwas zu sagen, was nicht stimme. Sie begründete das mit der ehrlichen und differenzierten Begrifflichkeit, der nuancierten Welt der deutschen Wörter.
Anna ist verwirrt. Sie ist Deutsche. Und das ganz ohne Probleme. In St. Petersburg aber, in einem Museum über die Belagerung der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, spricht innerhalb von Zehntelsekunden eine Stimme in ihr, die ihre Herkunft verleugnet. Geschah das aus Takt der Russin gegenüber? Oder steckt etwas anderes dahinter?
Wie geht man als Engländer durch diese Welt mit ihrer Geschichte, als Russe, Holländer oder Amerikaner? Wie viel unserer nationalen Vergangenheit tragen wir unsichtbar auf unseren Schultern? In wie fern repräsentieren wir heute, im Zeitalter der Globalisierung, Nationalität? Deutsch zu sein kann bedeuten, aufrichtig mit Schuld und Lüge umzugehen – es schließt aber nicht aus, sich schuldig zu machen oder zu lügen.
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
«Oder steckt etwas anderes dahinter» hast du gefragt Sophie.
AntwortenLöschenIch habe vielmals erfahren dass wenn ich jemanden frage woher sie/er kommt - weil sie/er ein ausländischen Namen hat oder weil sie/er ein Akzent hat die ich nicht kenne - dann sehe ich dass diese Person sich verteidigen muss weil ich sie nur mit einem Land identifiziere. Die Person ist als ein «Ich» nicht erkannt. Für mich gibt das Land eine Farbe die ich vielleicht nicht kenne und wovon ich mehr hören möchte aber ich kann sehen das die Person denkt : sie will mich in eine Schublade stecken !
Ein von den nächsten Block in NALM ist die karmische frage. Freue mich sehr mit einen besseren Werkzeug zu üben.
Lügen auf Deutsch ?
Auf Deutsch kommt das Verb am ende vom Satz. Dazu kann auch den Satz furchtbar lang sein. Auf deutsch fangt man an mit die Farbe, man beschreibt alle Details, kann auch korrigieren, man sucht und sucht bis alles stimmt und kann bis am ende noch mehr zufügen. Der Satz kann ja ohne Problem eine ganze Seite nehmen. Dann nur kommt die Aktion, das Verb. Bis dann ist man frei, der andere auch. Bis am ende ist alles möglich. Das Verb entspricht was vorher war und der andere kann das auch sehen.
Auf Französisch ist das Verb ganz am Anfang dann ist man gefangen, der andere auch, man hat schon alles gezeigt und ist nicht mehr freie. Farbe, Atmosphäre, Temperatur werden spielerisch benützt und der wo dass gut machen kann hat etwas bemalt das beeindruckt. Das Verb hat man auch vielleicht vergessen, er war ja in einen anderen Satz ... Es brauch auch nicht die Wahrheit zu entsprechen. Wenn man auf Französisch die Wahrheit sagen will/muss dann ist es viel schwieriger.
Wenn man viele Sprache kennt dann braucht man die eine oder die andere, es kommt darauf an was man sagen möchte. Also wieder die Sprache als ein Werkzeug.
Ganz anders ist es mit Poesie … Vielleicht könnte man poetisch sprechen um etwas, auf diesen Weg, zu entdecken ? Oder vielleicht ist das den Sinn von die Poetik.
So fühle Ich die Sprache. Was sagt deine Deutsche Seele Sophie ? Habe ich Französisch auf Deutsch gesprochen ?
Josiane
«Oder steckt etwas anderes dahinter» hast du gefragt Sophie.
AntwortenLöschenIch habe vielmals erfahren dass wenn ich jemanden frage woher sie/er kommt - weil sie/er ein ausländischen Namen hat oder weil sie/er ein Akzent hat die ich nicht kenne - dann sehe ich dass diese Person sich verteidigen muss weil ich sie nur mit einem Land identifiziere. Die Person ist als ein «Ich» nicht erkannt. Für mich gibt das Land eine Farbe die ich vielleicht nicht kenne und wovon ich mehr hören möchte aber ich kann sehen das die Person denkt : sie will mich in eine Schublade stecken !
Ein von den nächsten Block in NALM ist die karmische frage. Freue mich sehr mit einen besseren Werkzeug zu üben.
Lügen auf Deutsch ?
Auf Deutsch kommt das Verb am ende vom Satz. Dazu kann auch den Satz furchtbar lang sein. Auf deutsch fangt man an mit die Farbe, man beschreibt alle Details, kann auch korrigieren, man sucht und sucht bis alles stimmt und kann bis am ende noch mehr zufügen. Der Satz kann ja ohne Problem eine ganze Seite nehmen. Dann nur kommt die Aktion, das Verb. Bis dann ist man frei, der andere auch. Bis am ende ist alles möglich. Das Verb entspricht was vorher war und der andere kann das auch sehen.
Auf Französisch ist das Verb ganz am Anfang dann ist man gefangen, der andere auch, man hat schon alles gezeigt und ist nicht mehr freie. Farbe, Atmosphäre, Temperatur werden spielerisch benützt und der wo dass gut machen kann hat etwas bemalt das beeindruckt. Das Verb hat man auch vielleicht vergessen, er war ja in einen anderen Satz ... Es brauch auch nicht die Wahrheit zu entsprechen. Wenn man auf Französisch die Wahrheit sagen will/muss dann ist es viel schwieriger.
Wenn man viele Sprache kennt dann braucht man die eine oder die andere, es kommt darauf an was man sagen möchte. Also wieder die Sprache als ein Werkzeug.
Ganz anders ist es mit Poesie … Vielleicht könnte man poetisch sprechen um etwas, auf diesen Weg, zu entdecken ? Oder vielleicht ist das den Sinn von die Poetik.
So fühle Ich die Sprache. Was sagt deine Deutsche Seele Sophie ? Habe ich Französisch auf Deutsch gesprochen ?
Josiane