Sonntag, 22. August 2010

Krankheit verändert. Was das Leben mitunter macht

Ich besuche eine Freundin. Sie gehört zu meinem Schicksalsnetzwerk. Die ersten zwanzig Jahre unseres Lebens haben wir miteinander geteilt – die darauf folgenden fünfundzwanzig nicht. Trotzdem sind wir Freundinnen geblieben. Irgendwie. Freundschaft vergeht nicht so einfach, auch wenn man sich nicht sieht. Verbindung bleibt – wenn man sich nicht entzweit. Vor etwa fünfzehn Jahren haben wir uns zuletzt getroffen. Ein paar Telefongespräche haben uns in den folgenden Jahren als Brücke gedient.

Schon lange habe ich vor, sie zu besuchen. Und ich muss gestehen, dass ich viele Gelegenheiten nicht genutzt habe. Jetzt aber ist es soweit. Mir ist ein bisschen bang ums Herz und auch sie musste überlegen, ob ihr mein Besuch nicht zu viel sei – aber wir verabreden uns.

Ohne Titel IV

ist es das, was ich sagen will?
ist es auf diese Weise
wie ich es machen will?
ist morgen der Tag meiner Ziele und wird
heute Nacht
die Ankunft meines Glücks
stattfinden?
Mit leiser Hoffnung am Arbeits-
tisch meiner Gedanken
bewegt sich meine Hand
entsprechend den verschlungenen
Pfaden meines Ichs

Wir sind am Sonntag um 16.00 Uhr verabredet. Da ich die Wegbeschreibung zwar notiert, aber nicht mitgenommen habe, muss ich den Ort suchen, die Adresse habe ich noch halbwegs im Kopf. Es ist ein regnerischer Nachmittag – warm aber dunkel und nass, obwohl es Hochsommer ist. Ich fahre durch ländliches Gebiet, wohlahnend, dass sich das gesuchte Haus nicht im Zentrum eines Ortes befindet, sondern außerhalb. Dort, wo es Wald und Wiesen gibt. Wo nicht zu viel Verkehr vorbeikommt, es keine Geschäfte oder Büros gibt. Das Leben hat sich hier von außen nach innen gestülpt.

Ich werde erwartet. Als ich auf dem Parkplatz ankomme, kommt sie mir entgegen. Was hat das Leben aus ihr gemacht? Ich erkenne sie, natürlich, auch wenn sie sich verändert hat. Was mich durchdringt ist ihre Stimme. Sie ist unverändert. Sie schwingt in meinem Herzen. Sofort. Und bringt Wärme. Meine Freundin lacht mich an. Medikamente können wohl einen Körper beeinflussen – eine Stimme aber nicht.

Ohne Titel III

wenn ich versuche mich zu greifen
bin ich verschwunden
wenn ich versuche mich aufzulösen
bin ich schwerfällig und erdverbunden
ein Bein im Leben, schwebe ich
doch immer über den Wolken


Ich bekomme Tee, Schokolade und den sonntäglichen Kuchen. Wir sprechen über alte Zeiten. Lachen immer wieder miteinander, obwohl die Umgebung so trostlos ist. Schauen uns Fotos an. Ich entdecke mich selber in ihrem Album. Als Kind, als Jugendliche. Wir haben selbstgestrickte Pullover an, unsere ersten coolen Jeans und später Latzhosen. Es gibt Bilder auf denen wir in Frankreich zu sehen sind, oder in Holland auf unserer ersten Reise ohne Eltern. Wir haben zusammen Theater gespielt und gesungen. Auf der Straße. Das Leben lag damals vor uns ausgebreitet.

Aber diese Zeit ist lang vergangen. Während ich meine Kinder groß gezogen, studiert, und mich gesellschaftlich eingebracht habe, umgezogen und gereist bin, hat meine Freundin die Wartezimmer und Sprechzimmer der Psychologen durchwandert. Die Diagnose steht schon lange fest. Zehn Jahre Odyssee, nun das Zimmer in diesem Heim – und auch das schon seit zehn Jahren. Ein selbstgeführtes, eigenständiges Leben bleibt ein Traum, eine Vorstellung, eine Illusion. Der Weg ist zu weit. Die Wünsche von damals bleiben als Wünsche erhalten.

Unsere Gesellschaft kann mit solchen „Fällen“ schlecht umgehen. Menschen werden „untergebracht“. Ihre Herausforderung besteht nun darin, sechs Stunden in der Woche (!) ihr Zimmer zu verlassen. Beschäftigungstherapie. Ansonsten dürfen sie im Rahmen des festgelegten Tagesablaufs in ihrem Zimmer bleiben. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Die Welt hat sich zusammengezogen, das Leben hat einen kleinen Radius.

Der Frühlingspunkt

Verträumt gehen wir
durch die Zimmer
wir rufen sie laut
die Zeit – doch sie will
nicht (kommen)
sie bleibt in der Ecke
liegen, wie ein vertrocknetes
Häufchen Herbstlaub


Ich habe sie besucht, meine Freundin aus Kindertagen. Eine Stunde lang – dann war es ihr genug. Und ich bin froh und betrübt und verwirrt und verstört. Sie gehört zu mir, zu meinem Leben – und das wird auch immer so bleiben, aber ich weiß nicht so gut, wie ich ihre Geschichte in mir integrieren kann. Etwas in mir lehnt sich auf. Muss das alles so sein? Gibt es da keine Möglichkeiten? Was könnte eine Heilung bewirken? Und was zeigt das Schicksal meiner Freundin mir? Was bedeutet so ein Lebenslauf – für sie, für mich, für die ganze Gesellschaft? – wie entsteht er und wohin führt er?

Meine Freundin behält ein Foto meiner drei Kinder – die so alt sind, wie wir damals waren. Sie realisiert ganz zaghaft, dass sie vielleicht in diesem Leben keine eigenen Kinder mehr haben wird… Die Welt ist ungerecht und unverständlich. Und ohne Reinkarnation und Karma kaum zu akzeptieren.

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