Montag, 28. September 2009

„Lerne das Gefundene zu behandeln als das Gesuchte.“ Adolf Muschg und seine „Kinderhochzeit“

Die Kunststiftung Hohenkarpfen hat zu ihrer Mitgliederversammlung (25.9.2009) zum 25-jährigen Bestehen ihres Vereins im ehrwürdigen Sitzungssaal des Rathauses Donaueschingen offiziell eingeladen. Nach den zügig vorgetragenen und rundherum positiven Regularien hatte die Stiftung einen renommierten Autor eingeladen um aus seinem letzten Werk zu lesen.

Somit habe ich den Schweizer Adolf Muschg zum dritten Mal aus seinem Buch „Kinderhochzeit“ lesen hören. Jedes Mal wählt er eine andere Stelle aus, jedes Mal holt er die Figuren in den Raum und jedes Mal berührt es mich, mit welcher Innerlichkeit er seine eigenen Worte vorträgt. Worte, die sich gebildet haben, dann auf das Papier gebannt wurden und sich nun wieder von der schriftlichen Form durch eine Lesung in eine mündliche Wiedergabe verwandeln. Der große Vorteil, wenn Worte gesprochen werden ist ja, dass sie einen deutlicheren Klang, einen Geschmack mitliefern.

Wenn man die Namen der beiden Protagonisten des Romans bei google eingibt, bekommt man zwei markante Ergebnisse: Bei „Klaus Marbach“ stößt man sofort auf eine Menge „realer“ Personen, die dies und das, da und dort vertreten, gemacht haben oder tun wollen. Wenn man aber „Manon de Montmollin“ eingibt, landet man direkt in der „Kinderhochzeit“ von Muschg.

Dies ist symptomatisch für den gesamten Roman. Es ist das Leitmotiv. Geschichte und Literatur tun sich zusammen. Es geht um Reales und Fiktionales, Gewesenes und Erdachtes, Mögliches und Unmögliches. Klaus und Manon gehören in das Netzwerk des Autors, so wie du und ich. Auf der Ebene der Geschichten gibt es da keinen Unterschied, ob es sich um literarische oder reale Figuren handelt. Der Anlass für das Buch ist ein dunkles Kapitel. Es ist nur ein Buchstabe, der Geschichte von Geschichten trennt.

In Muschgs neuem Roman geht es um Grenzen. Auf allen Ebenen. Symbolträchtiger Ort des Geschehens ist eine Stadt Nieburg, die durch den Rhein geteilt wird. Die eine Seite ist schweizerisch, die andere deutsch. Was hat sich hier in der Nazizeit abgespielt? Wer trägt „Schuld“, wer ist „Opfer“, wer hat hingeschaut, wer weggeschaut, wie geht man mit dem eigenen Gewissen um – und, was ist überhaupt passiert?

Nicht immer kann jemand, der schreiben kann, auch reden. Adolf Muschg ist aber so jemand – er kann reden, und wie! Seine gesprochenen Worte unterscheiden sich von seinen geschriebenen kaum. Und das bedeutet, dass sie die gleiche Quelle haben. Er ist als Autor und Zeitgenosse der Knotenpunkt für das, was im Roman und auch sonst gesagt werden muss: etwas über die Geschichte von Figuren, von Orten und von Unternehmungen.

Im Donaueschinger Rathaus steht Muschg souverän am Pult und spricht und liest immer im Wechsel – nicht anders als die Redner vor ihm, die Zahlen und Dankesworte, zwecks Abarbeitung ihrer Mitgliederversammlung, vorgetragen haben.

Im Folgenden ein paar Worte über den Inhalt, obgleich gerade der verschlungen ist und nur einen Teil des Textgewebes ausmacht. Da ich den umfangreichen Roman aber gelesen habe, kann ich über das, was vorgetragen wurde hinausgehen: Den Rahmen der Erzählung bildet das Jahr 2003. Sie beginnt in der Neujahrsnacht in Istanbul - Klaus Marbach wird von seiner Frau Manon de Montmollin mit einer unerwarteten Nachricht überrascht. Die Erzählung endet ein Jahr später mit Klaus’ Tod. Aber das ist nur einer von vielen ineinander greifenden Strängen der Erzählung, nur eine Perspektive, die dem Leser angeboten wird.

Genauso könnte man sagen, dass sich die Erzählung über den Zeitraum von zwei Generationen erstreckt und davon handelt, wie die eine aus der anderen hervorgeht. Es geht um Gewissensfragen und um Spuren, die Taten, Ideen und Menschen hinterlassen. Die Erzählung beginnt wie ein Krimi: mit einem Mord der aufgeklärt werden muss. Wie konnte es in unserer zivilisierten Welt dazu kommen?

Väterlose Söhne spielen für das Geschehen eine Rolle, millionenschwere Erben tauchen auf, verschiedene Ehen verbreiten einen Hauch der Unzulänglichkeit um sich, Grenzen und Grenzstädte setzen Zeichen: Rheinfelden, Görlitz, Berlin und ein Bild aus dem Jahr 1949, eben das, das Kinderhochzeit genannt wird, greifen ineinander.

Auch geht es um die Ehe von Imogen Selber-Weiland und Iring Selber sowie deren Tod 2003. Neben dem Auftritt des Herrn „Selber“ kommen die Bemühungen eines Herrn „Nicht“ dazu, der gerade in seinem Fall für Klaus Marbach unschätzbare Recherche-Dienste leistet. Die Namensgebung leistet da interessante Interpretationsansätze. Es gibt viele Spuren, Stränge und Wege durch den Roman, der Inhalt lässt sich hier nur unzulänglich zusammenfassen – er will gelesen sein.

Obgleich Klaus Marbach ein wichtiger Protagonist ist, muss sich der Leser darauf einlassen auch vieles von anderen Figuren zu erfahren, allerdings ohne ihre Gesamtgeschichte zu überschauen - sofern so etwas überhaupt möglich wäre. Klaus’ Ende gar wird durch das Erleben seiner um ihn bangenden, sich von ihm scheiden lassenden Frau erzählt - und sie weiß, naturgemäß, nicht viel von ihm. So bleibt am Ende der Erzählung eine Hoffnung: „Die Antwort will nicht gesucht sein, sie findet sich. Sie findet dich.“

Adolf Muschg versteht es in seinem Roman ein spannendes Beziehungsnetz aufzubauen und die Hauptfiguren zu verfolgen, die nicht weniger Relevanz im Donaueschinger Rathaus haben, als die Zuhörer. Er hat mit seinem Roman Tatsachen geschaffen – genau so, wie die Verantwortlichen der Kunststiftung Hohenkarpfen. Er hat das Motiv entschlüsselt, das sich Klaus Marbach als Lebensmotto gesetzt hat: „Lerne das Gefundene zu behandeln als das Gesuchte“.

Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 2008
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2 Kommentare:

  1. Liebe Sophie,
    deine Beschreibung dieses Buches und des Menschen Adolf Muschg ist geheimnisvoll und gleichzeitig verheißungsvoll. Sie macht neugierig, das Buch und seinen Autor kennen zu lernen.

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  2. Liebe Sophie, Worte & Menschen: deine Welt. Und Schicksale. Ich mag deine genaue & warme Sprache. Herzlich, Jelle

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