Wenn wir geboren werden, haben wir keine Kleider an. Haben keinen Besitz, keine „Erfahrungen“, wissen uns nicht zu benehmen, sind ungebildet und komplett auf die Fürsorge von Mitmenschen angewiesen, die uns ins Leben begleiten. Auch wenn wir sterben, verlassen wir die Erde ohne materielles Gepäck. Dazwischen aber, zwischen den beiden großen Tagen der Geburt und des Todes, sammeln wir so alles Mögliche an. Wir lernen unendlich viel. Abgesehen von materiellen Dingen, die unser Leben äußerlich begleiten, sind es im Wesentlichen die inneren Erfahrungen und Erlebnisse, die uns durch die Wirrnisse des täglichen Lebens führen.
Die Annahme, dass wir „vom Leben“ am meisten lernen - mehr und ganz andere Dinge, als in Schulen, Universitäten oder anderen offiziellen Bildungseinrichtungen - ist weit verbreitet. Oft sind es gerade Krisen, schwierige Situationen oder besondere Lebensumstände, die dazu führen, dass wir etwas lernen: uns verändern, Fähigkeiten entwickeln, neue Standpunkte einnehmen oder die Welt aus einem erweiterten Blickwinkel anschauen.
„Lernen“ birgt die Offenheit, etwas Neues, Anderes, Unerwartetes an uns heranzulassen und uns neu, anders oder unerwartet zu positionieren. „Lernen“ ist - genauso wie leben - immer ein Ereignis. Vieles läuft dabei unbewusst ab und gar nicht immer ist das „Lernen“ mit Anstrengung, Überwindung oder Belastung verbunden. Auffällig ist aber, dass jeder anders und etwas anderes lernt, dass das Leben eines jeden Menschen unterschiedlich verläuft und ganz andere Lernmöglichkeiten oder auch Herausforderungen birgt.
Das Leben spricht also unterschiedliche Sprachen. Wir nennen es gemeinhin Sozialisation, was zu diesen Unterschieden führt. Der eine wird in eine große Familie hineingeboren, der andere lebt mit seiner Mutter allein, der eine macht Reisen und lernt die Welt kennen, der andere kommt kaum aus seinem Landstrich heraus, jemand wächst in einer Großstadt auf oder auf dem Dorf. All diese Unterschiede ließen sich beliebig erweitern.
In spirituellen Kreisen spricht man weniger von Sozialisation, dort wird der Begriff in „Schicksal“ transformiert.
Welches Wort man auch immer wählt, gibt es einen Sinn hinter den Unterschieden? Oder ist das alles Zufall (das, was einem zu-fällt?) – mit dem einen hat es Gott gut und mit dem anderen ein bisschen bescheidener gemeint? Wie lassen sich die Unterschiede begründen, verantworten, ja, wie halten wir die Tatsache aus, dass es so unterschiedliche Startbedingungen ins Leben und Gegebenheiten durchs Leben gibt? Wo liegen die Quellen für diese Unterschiede?
Fragen sind aber nicht nur die unterschiedlichen Startbedingungen, sondern auch die unterschiedlichen Lebensmotive, -haltungen, -möglichkeiten, -anforderungen, schlicht die Art und Weise wie wir im Leben stehen. Anders ausgedrückt: Durch was konstituiert sich konkret die Individualität des Individuums – durch Sozialisation?
Jeder Mensch reagiert individuell, speziell und in seiner eigenen Art und Weise auf Ereignisse. Auch wenn verschiedenen Menschen „das Gleiche“ passiert, so ist damit noch nicht die Bedeutung, der Klang, die Konnotation genannt, die das Geschehen für den Einzelnen hat. Wie lässt sich das verstehen? Wie lässt sich die Individualität eines Menschen begründen, wenn sie über den Sozialisationsgedanken (und natürlich die entsprechende Bildungsgeschichte) hinausgeht?
Eine Möglichkeit ist der Gedanke der Wiedergeburt, des Lernens und sich Entwickelns über eine Inkarnation hinaus. Das Wort „Karma“ hat heute Konjunktur und ist ein schillernder Begriff. Es kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Rad“. Und ein Rad ist ein Symbol für die Unendlichkeit. Es hat keinen Anfang und kein Ende, aber es dreht sich fort und fort - es symbolisiert eine fortwährende Bewegung.
Karma setzt den Gedanken der Reinkarnation voraus. Wenigstens als Hypothese - sonst ist mit ihm nichts anzufangen - denn die Überlegungen über Karma gehen über ein Leben hinaus: Es handelt sich um den großen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Zwischen Taten und Folgen. Um das, was entsteht, wenn ich mich – auf längere Sicht – so oder so verhalte. Der Begriff des Karmas ist also eng an die Individualität des Menschen geknüpft und geht von der eigenen Gestaltbarkeit des Lebens - eben über mehrere Inkarnationen hinaus - aus. Neben den offenen Chancen, die dieser Gedanke mitbringt, und ganz im Gegensatz zur Beweglichkeit eines Rades, wird der Begriff Karma im zwischenmenschlichen Leben heute aber auch oft mahnend oder sogar drohend gebraucht - denn wir kreieren unser Leben, unser Schicksal und damit auch unser Karma selber. Die eigene Verantwortung gehört also genauso wie das individuelle Gespür für sich selber dazu.
Der Gedanke des Lernens vom Leben arbeitet mit der Eigen-artigkeit des Individuums (wir sind nicht alle gleich) und er beinhaltet die Idee der Entwicklung (was nicht ist, kann noch werden). Jede meiner Taten hat Folgen – die ich aber nicht unbedingt kenne – und jedes meiner Erlebnisse hat eine Vorgeschichte – die auch aus einem anderen Leben stammen kann. So, wie die Identität eines Menschen auf dem Schnittpunkt zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht, bietet mir das Leben eine ganze Reihe von Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten an. Und das alles macht nur Sinn, wenn es wiederholte Chancen gibt.
Der Idee von Karma und Schicksal macht das Leben groß. Und es macht es abenteuerlich, denn wir überschauen die großen Zusammenhänge und menschlichen Netzwerke natürlich nicht bewusst. Das Leben selber wird zum Lehrmeister – denn wer könnte mich sonst über mein eigenes - so individuelles - Schicksal unterrichten? Wenn wir die vielen, kleinen Bemerkungen des Lebens zu lesen vermögen, können wir das, was aus der Vergangenheit transformiert werden will bearbeiten und uns die Fähigkeiten, die die Zukunft von uns fragt erlernen.
Der Gedanke von Reinkarnation und Karma stiftet Sinn. Lebenssinn. Und die eigene biographische Entwicklung lehrt uns das, was die offiziellen Bildungseinrichtungen nicht zu unterrichten vermögen. Am Ende des Lebens lassen sich nur die immateriellen Güter mit in einen geistigen Zustand überführen – die irdischen Kleider bleiben auf der Erde zurück.
(Fortsetzung folgt.)
Lyrik
das Nichtwort
ausgespannt
zwischen
Wort und Wort
Hilde Domin
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Hilde Domin
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