Montag, 21. September 2009

Der Blick nach vorne und zurück

In jedem Moment unseres Lebens stehen wir auf einem Kreuzungspunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Begriff der Gegenwart ist elastisch und nicht auf eine bestimmte Zeiteinheit begrenzbar. Von einem Tag zum anderen - von der Vergangenheit durch die Gegenwart - hinterlassen wir Spuren, die aus der Vergangenheit kommen und uns in die Zukunft führen. Physisch stehen oder laufen wir immer auf dem uns eigenen Kreuzungspunkt und können nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein. Auf der seelischen und geistigen Ebene ist das anders. Wir erinnern uns an die Vergangenheit und haben Pläne für die Zukunft.

Der Blick auf unser eigenes Leben hängt von der Perspektive ab und die Bewertung unserer Taten und dem, was wir unterlassen haben, ändert sich je nach Standpunkt. Es mag da einiges geben, was uns gefällt, auf das wir stolz sind oder für das wir uns schämen, das wir wiederholen oder vermeiden wollen. Diese Perspektive lässt sich auch einnehmen, wenn wir nach vorne, in unsere Zukunft schauen. Dort sind die Dinge noch nicht fest – noch nicht vergangen – sondern vage, offen und möglich – eben zukünftig.

Wie verhalten sich aber Vergangenheit und Zukunft zueinander – oder sollte ich lieber schreiben: Wie tanzen die beiden miteinander, so dass für uns ständig eine Gegenwart mit neuen Möglichkeiten entsteht? Wer hängt eigentlich von wem ab, oder anders gesagt: In welchem Verhältnis stehen diese Orientierungspunkte zueinander – wie kreiert sich der gegenwärtige Zeitstrom zwischen Vergangenheit und Zukunft?

Einerseits ist die Zukunft immer offen - eben noch unsichtbar - und andererseits schwimmt sie im Strom von Vergangenheit und Gegenwart, um sich daraus selbst zu gebären. Vergangene Tatsachen lassen sich nicht tilgen – die Einbettung in eine Bewertung ist aber variabel und hängt von der Perspektive ab, die wiederum mit dem Strom der Zeit immer wieder andere Knotenpunkte des Lebens als Standorte möglich macht. Bedeutung hängt also vom Standpunkt im Netz der Geschehnisse und der Beteiligten ab.

Das Geschenk von Lebenserinnerungen, Autobiographien und Memoiren aller Art, die die Lebensgeschichte eines Menschen betreffen, ist immer der rückwärtsgewandte Blick. Was ist gewesen, wie ist es gewesen, warum hat sich etwas so und nicht anders ereignet, kurz, in welche Umstände war der jeweilige Lebenslauf eingebettet. Wir erfahren etwas über Möglichkeiten, Notwendigkeiten, Herausforderungen und Unmöglichkeiten. Die Aufmerksamkeit ist auf die Vergangenheit orientiert. Was die selbstverfassten Biographien nicht bieten, ist der gesamte, umfassende Blick auf ein Leben, denn geschrieben wird – wie lange auch immer – vor dem eigenen Tod, die Perspektive ist also persönlich und „beschränkt“. Ganz anders sieht es aus, wenn ein Außenstehender auf das entsprechende Leben blickt und sich zu den verschiedenen Kreuzungspunkten äußert – oder wenn der Standpunkt ein nachtodlicher ist.

Laut Rudolf Steiner, und anderen geisteswissenschaftlichen Forschern, erlebt der Mensch nach dem Tod eine Rückschau auf sein eigenes Leben. Und zwar auf das gesamte Leben. Auf alles. Ausnahmslos. Die eigene Perspektive ist dann in Bezug auf die eigenen Lebenstatsachen endgültig. Was getan wurde, wurde getan, was nicht getan wurde, wurde nicht getan. Definitiv.

Die Bewertung des Vergangenen könnte aber noch einmal ganz anders ausfallen, als die, die im Leben vorgenommen wurde. Worauf kommt es – mit dem Blick des Nachtodlichen – im Leben eigentlich an, worauf ist die Orientierung für einen selbst und Außenstehende in Bezug auf die Geburt einer neuen Zukunft gerichtet?

Carl Djerassi hat in Bezug auf dieses Thema ein interessantes Buch herausgebracht. Er wagt den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft. Er lässt vier jüdische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, die sich fast alle im Leben kannten, einander nachtodlich (auf dem Parnass) treffen. Es handelt sich dabei um die Philosophen Walter Benjamin (siehe Blog vom 21.6.2009) und Theodor W. Adorno (Frankfurter Schule), den Religionshistoriker Gershom Scholem und den Komponisten Arnold Schönberg.

Sie treffen posthum aufeinander – übrigens mit ihren Frauen – und sprechen über „Unerledigtes“, „Ungeklärtes“, „Unbekanntes“ oder schlicht über das, was eigentlich im Leben noch hätte geklärt, erklärt, abgeklärt, aufgeklärt oder verklärt werden können. Sie sprechen über das, was im Leben nicht gesagt wurde, was sie einander im Leben explizit nicht gesagt haben, nicht sagen konnten oder wollten. Über das, was sie nicht getan haben. Auch das, was sich nach dem Tod der Einzelnen politisch oder im privaten Umkreis ereignet hat, wird in der posthumen Unterhaltung thematisiert.

Ihre Gespräche kreisen um Themen, die ein außenstehender Biograph nicht beurteilen kann. Sichtbar ist lediglich, dass es „Lücken“, „Ungereimtheiten“, „Brüche“ oder schlicht „Fragen“ gibt. Und genau darüber lässt Djerassi die vier Männer miteinander reden. Quellen für diese Gespräche sind Briefe, Hinterlassenschaften, Berichte von Freunden, Texte und eben Lebenstatsachen. Djerassi beteuert, dass er nichts „erfunden“ habe, sondern lediglich seine „Funde“ zusammengesetzt habe. Er hat eine ungewöhnliche Perspektive eingenommen. Er hat das Herz Fragen zu stellen und bietet mögliche Antworten an. Dies geschieht auf eine Weise, dass die Beteiligten zwar mit ihren Schwächen oder Unzulänglichkeiten konfrontiert, jedoch nicht verurteilt werden. Es geht dabei um sehr menschliche Fragen, die sich auch unter der Überschrift „Die Verwirrungen des eigenen Lebens“ subsummieren lassen könnten.

Wenn Walter Benjamin in seinen Briefen an Gretel Adorno vom Sie zum Du und manchmal wieder zum Sie wechselt, hat das eine Geschichte. Einen Grund. Diese Gründe kennt niemand anderes als die beiden Betroffenen. Und es ist auch eine berechtigte Frage, ob diese delikate Tatsache überhaupt jemand anderen etwas angeht. Wenn man aber die veröffentlichten Briefe der beiden liest (und auch das ist natürlich eine Frage, ob so eine Veröffentlichung eigentlich „rechtens“ ist), dann können die benannten Feinheiten schon auffallen.

Djerassi ist nun so mutig und bietet ein Gespräch der Betroffenen über solche persönlichen Dinge an, er macht möglicherweise etwas aus der nachtodlichen Verarbeitung sichtbar. Durch die Worte der Betroffenen macht er mögliche Gründe der persönlichen Taten bzw. Unterlassungen erlebbar – und bewegt sie damit. Er lässt die Beteiligten über Dinge sprechen, auf die es möglicherweise im Leben angekommen wäre – was aus der Perspektive des Nachtodlichen möglich ist, und nur des Nachtodlichen.

Aus so einem Rückblick auf die Vergangenheit lässt sich erahnen, wie sich die Zukunft immer wieder neu gestaltet – auch über ein Leben hinaus.


Carl Djerassi: Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch - Benjamin, Adorno, Scholem, Schönberg. Haymon Verlag, Innsbruck 2008.

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