Montag, 13. Juli 2009

Literatur: Autor - Text - Leser. Die Geburt des Lesers

Die Beziehung zwischen Autor und Leser entsteht über Text. Gäbe es keinen Autor der schriebe, und keinen Leser der läse, dann gäbe es auch keine Beziehung zwischen Autor und Leser. Es gäbe dann nichts, was geschrieben worden wäre, und nichts, was gelesen werden könnte – es gäbe keinen Text. Die Verbindung, oder auch, der Treffpunkt zwischen Autor und Leser, findet auf der Ebene des Textes, des Werkes, des Geschriebenen statt. Während der Autor die Funktion des Schreibens hat und der Leser die des Lesens, leistet der Text beides – er muss sowohl geschrieben als auch gelesen werden, sonst wird er nicht zum Ereignis, kann sich nicht entfalten und zum Leben erwachen.

Einen modernen „Autor“ gibt es erst seit dem Ende des Mittelalters. Seitdem das Individuum erwacht ist und sich persönlich - und damit angreifbar - im Raum positioniert. Vor und im Mittelalter gab es vornehmlich Erzähler. Und nicht wenige, der uns heute noch bekannten Überlieferungen aus dieser Zeit, tragen keinen Namen. Geschichten und Erzählungen - Märchen, Sagen, Mythen - wurden weitererzählt – natürlich mündlich – und waren Ausdruck von Geschehnissen eines Volkes, eines Stammes oder eines Herrschaftssystems. Heute ist ein „Autor“ (lat. auctor), allgemein verstanden, derjenige, der ein literarisches Werk verfasst. Er ist der „Urheber“, der „Schöpfer“ seiner geschriebenen Worte und damit, wenn es gut geht, ein literarischer Schriftsteller.

Auch die Bezeichnung „Literatur“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet, abgeleitet von „littera“ (der Buchstabe), die Buchstabenschrift, die Sprachkunst. In diesem Begriff treffen sich über das Vehikel der Sprache die Kunst des Schreibens - die Schrift - und die des Sprechens – das gesprochene Wort. Heute sprechen wir im Allgemeinen einfach von „Texten“ (die zum Beispiel Literatur bilden, darstellen oder transportieren). Der Begriff „Text“ geht auf das aus spätmittelhochdeutscher Zeit entlehnte lateinische „textus“ zurück und bedeutet „Gewebe“, „Geflecht“, „Verbindung“. In diesem Wort liegt also auf der Ebene der Semantik schon die offene und bewegliche Geste von Schriftlichkeit.

Das Wort-Geflecht also, das einen literarischen Text bildet, muss von einem Leser gelesen werden. Und was bedeutet „lesen“? „Lesen“ heißt, so berichtet es das Etymologische Wörterbuch, „das verstreut Umherliegende aufnehmen und zusammentragen“. Diese Bedeutung macht deutlich, dass sich Vieles „lesen“ lässt – mehr als Worte. Auch Landschaften können gelesen werden, die Mimik eines Menschen, Stimmungen, Gemälde – und so sprechen wir in vertrauten Situationen auch davon, dass uns jemand ein offenes Buch ist, in dem wir lesen dürfen.

Heute werden kaum mehr Texte ohne Autor, ohne einen deutlich zu verifizierenden Urheber, einen Schöpfer, einen Verantwortlichen veröffentlicht, d.h. der Öffentlichkeit anheimgegeben. Autor und Text gehören eng zusammen. Und trotzdem ringt die moderne Literaturwissenschaft damit, in welchem Verhältnis Text und Autor zueinander stehen. Wer oder was spricht sich aus? Drückt sich der Autor durch seinen Text aus – oder drückt der Text etwas über den Autor aus?

Wird der Autor durch den Text sichtbar? Oder wird der Text durch einen Autor sichtbar? Die moderne Literaturwissenschaft ist an dieser Stelle sehr vorsichtig. Sie versucht fast ausschließlich den Text als Kunstwerk und insofern als Untersuchungsgegenstand zu betrachten. Der Autor ist natürlich nicht gänzlich unwichtig – aber ein Literaturwissenschaftler hat gut zu prüfen, ob er eine Aussage mittels eines Textes über einen Autor machen kann. Selbst der Frage, wer in einem Text spricht – Autor, Erzähler oder gegebenenfalls ein Ich (sowie andere Figuren) - wird sehr bedachtsam nachgegangen.

Was geschieht also mit einem Autor, wenn er seinen Text veröffentlicht? „Stirbt“ er dann – so wie Roland Barthes (1915-1980) dies Ende der sechziger Jahre in Frankreich proklamiert hat? Trennt sich also die Quelle, der Urheber vom Ergebnis, vom Text? Und was entsteht gegebenenfalls daraus? Die Literaturkritik kennt in der Literatur heute eigentlich noch immer keinen anderen als denjenigen, der die Literatur geschaffen hat. Sie versucht - wenn überhaupt - etwas durch die Urheberschaft zu erklären. Roland Barthes weist darauf hin, dass es noch eine andere Richtung gibt. Er sagt: „Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt.“ Und wer ist das, wenn nicht der Leser?

Ein Autor lebt und arbeitet in seinem Netzwerk. Ort und Zeit sind auch für ihn bestimmende Faktoren. Das, was er schreibt, rekurriert sich – in irgendeiner Weise – aus seinem Leben. Seinem Denken, Fühlen, Handeln – seinem Wissen, seinen Aufgaben, seinen Fähigkeiten etc. Das, was er der Öffentlichkeit übergibt, ist sein Text. Ob es ein Gedicht ist, ein Roman oder ein Drama, ein Sachtext, ein Aufsatz, ein Essay oder noch etwas ganz anderes. Er übergibt das, was er geschrieben hat der Öffentlichkeit – in einem Buch, einer Zeitschrift, durch das Internet oder auf sonst eine Weise. Der Text bleibt dann statisch. Wie ein Fels in der Brandung. Er bleibt einfach bestehen. Egal, ob sich der Autor von ihm abwendet, sich weiterentwickelt, ob er stirbt oder ihn vergisst.

Und dieser Text, der nun einfach da ist, sich öffentlich anbietet, wird, wenn es gut geht, von einem Leser gefunden, entdeckt und gelesen – und dadurch seiner Statik enthoben. Durch den Leser erwacht der Text, wird beweglich und beginnt ein Eigenleben. Denn ein Leser steht, liegt oder sitzt genauso in einem Netzwerk, wie ein Autor. Möglicherweise aber in einem anderen. Der Text verbindet also Netzwerke miteinander. Und er lässt eine neue Bewegung, ein neues Gespräch entstehen. Schriftlich, mündlich oder durch die Stille. Der schreibende Autor, der sich zu Verfügung stellende Text und der lesende Leser. Mit diesem Dreiklang wäre ein neues, postmodernes Ziel erreicht – die Literaturwissenschaft könnte, statt sich auf die Quelle eines Textes zu beziehen, die Richtung wechseln, sie könnte mutig und vertrauensvoll den Leser anvisieren.

Gerade das macht Adolf Muschg in seinem großen Werk: „Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival.“ Im letzten, dem 100. Kapitel, übergibt der Autor sein Werk dem Leser. Das Kapitel heißt: „Der Leser. Worin die Hauptperson dieses Buches ihr Geheimnis verrät und das Hundert voll macht (hic et ubique).“ Adolf Muschg hat es im Inhaltsverzeichnis genannt, aber nicht geschrieben, denn er weiß, dass es sich nur in seinen Lesern fortsetzen kann – und nicht in ihm als Autor. Der Blick wendet sich – vom Ursprung in die Leserschaft, dort wird der Text neu geboren.

• Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Reclam Verlag, Stuttgart, 2000. Zitat: Seite 192.
• Adolf Muschg: Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival. Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 1993.

1 Kommentar:

  1. Liebe Sophie,
    mit viel Interesse lese ich Deine Stücke. Dafür vielen Dank. Mich beschäftigt auch schon sehr lange das Thema, wie die Sprache in der heutigen Zeit wieder lebendig und beseelt werden kann.
    Herzliche Grüsse
    Wilfried

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