Montag, 27. Juli 2009

Zwei Häuser am Deich. Die Entstehung von Bedeutung

Häuser werden von Menschen gebaut, weil Menschen eine Behausung brauchen. Man nennt sie auch die dritte Haut. (Wenn man der Etymologie des Wortes nachgeht, stößt man auch auf Begriffe wie „Schutz“, „umhüllen“ (indogerm.), oder das „Bedeckende“ (althochdt.)) Die Eigenart von Häusern ist es, dass sie sich nicht (oder nur sehr selten) vom Fleck bewegen. Menschliche Wohnhäuser bilden einen Fixpunkt. Wenn einmal ein Haus gebaut ist, dann kann es gut und gerne den Menschen, die darin wohnen, jahrzehntelang eine Unterkunft bieten. Den beweglichen Part dieser Kombination von Gebäude und Bewohner bilden die Menschen. Sie können ein- und ausgehen, ein- und ausziehen. Und so beherbergen Häuser im Laufe der Zeit auch oft Scharen von Menschen, die einander gar nicht kennen. Oder einander nicht kannten. Denn die Lebensdauer eines gut gebauten Hauses überdauert die der Menschen um ein vielfaches. Jedes Haus beherbergt aber ein spezifisches Innenleben, es hat neben der äußeren auch eine innere Geschichte, die in Abhängigkeit von den Menschen, die es bewohnen steht. Ohne handelnde Menschen keine Geschichte von Bauten – weder äußerlich noch innerlich.

Heute möchte ich meinen Blick auf zwei Häuser richten, die mich betroffen machen.

Sie stehen beide in Norddeutschland. Und sie stehen beide direkt am Deich zur Nordsee. Das eine auf dem Festland und das andere auf einer Insel. Es sind beides bescheidene aber typische Häuser für die Gegend. Äußerlich fallen sie nicht auf. Sie sind nicht besonders groß, aber auch nicht winzig klein, es sind einfache Friesenhäuser. Gemeinsam ist ihnen noch, dass sie von jeweils einer Person bewohnt werden. In dem einen Haus wohnt mein Onkel väterlicherseits und in dem anderen meine Tante mütterlicherseits.

Die Geschichte des Hauses auf der Insel beinhaltet ein Familienleben. Fünf Kinder sind dort aufgewachsen. Und weil andere Menschen so gerne Ferien am Meer machen, sind die Kinder damals - in den Sommermonaten - in den Garten gezogen, um fremden Gästen einen Platz im Haus zu bieten. Und mit diesem Umstand ist die Geschichte des Hauses schon umrissen. Es hat sich in ein Gästehaus verwandelt. Ist schon seit vielen Jahren zu einem gemütlichen Gästehaus mutiert. Heute lebt fest nur noch meine Tante dort – und das seit vierzig Jahren. Aber die Gäste gehen ein und aus. Was wird aus einem Haus, das von so vielen verschiedenen Menschen bewohnt wird? Was entsteht aus dem Ein- und Ausgehen?

Das Haus birgt eine spezielle Atmosphäre, die alles andere als kalt zu nennen ist. Aber es enthält Möbel, die von jedem genutzt werden. Und gerade das sagt schon etwas aus. Möbel, die von unendlich vielen Menschen benutzt werden. Schränke, die immer wieder neu ein- und ausgeräumt werden. Funktionalität – oder besser: Zweckmäßigkeit - steht im Vordergrund. Das Haus bietet in dieser Funktion Schutz. Und die Innenausstattung eröffnet Möglichkeiten. Man kann dort schlafen, kochen, essen, lesen, seine Sachen verstauen und so weiter.

Die Bedeutung dieses Hauses entsteht durch die Menschen, die darin etwas erleben. Das Haus ist ein „Möglichmacher“. Die Gegenstände rufen dazu auf, Bedeutung zu erschaffen, denn von sich aus sprechen sie nicht. Ich selber bin oft in diesem Haus gewesen. Schon als Kind. Und als ich jetzt wieder dort war, sind allerlei alte Erinnerungen, Gefühle des Beheimatet seins in mir aufgestiegen.

Da gibt es an der Badtür, die in der Mitte eine Glasscheibe hat, einen Vorhang. Er hängt schon sehr lange dort. Ich kenne ihn schon aus Kindertagen. Es ist ein hellgelber, mittlerweile schon sehr alter und ausgewaschener Vorhang, der Stickereien in der gleichen Farbe trägt. Es handelt sich wahrlich nicht um ein besonders schönes oder ausdrucksstarkes Stück Stoff. Nein, es ist das Gefühl, das in mir entsteht, wenn ich ihn – so nebenbei - wahrnehme. Damit wird etwas Vertrautes berührt. Obwohl sicher Hunderte von Menschen diesen Vorhang kennen, bedeutet er etwas – irgendwie gehört er zu meiner Geschichte.

Die Verbindung von Gegenständen und Menschen ist die Bedeutung, die sie einander verleihen. Das Haus an sich, oder der Gegenstand an sich strahlt gar nichts aus. Aber die Verbindung, das, was zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Mensch und Welt, zwischen mir und dem Badezimmertürenvorhang „geschieht“, sich irgendwie eingenistet hat, das hat Bedeutung.

Ganz anders ist die Situation in dem Backsteinfachwerkhaus mit dem Reetdach auf dem Festland. Dort gehen selten Menschen aus und ein. Bis vor gut drei Jahren - und schon seit Jahrzehnten - wurde das alte Friesenhaus von meinem Onkel und seiner Frau bewohnt. Aber sie ist bereits verstorben. So lebt nun physisch nur noch mein Onkel in dem Haus. Aber so ist es nicht. Nein. In diesem Haus ist es ganz anders. Seine Frau ist deutlich anwesend. Nicht nur, dass überall Bilder von ihr hängen – was schon sehr prägend ist – nein, es ist die Stimmung, die Atmosphäre, die Aura, von der das Haus geprägt ist. Mein Onkel ist Künstler. Durch und durch Künstler. Und das Haus ist gestaltet. Jede Ecke, jeder Winkel. Kreativität pur. Da kommt nichts ungeschliffen aus dem Baumarkt. Nein, jede Kachel ist selbst bemalt, jeder Schrank speziell für diese Ecke gebaut, das Tor gestaltet, die Tür, der Fussboden. Es gibt in diesem Haus nichts Zufälliges. Und nichts Belangloses. Nein, hier ist Gestaltung – ja, Bedeutung! – pur anzutreffen.

Und bei allem was geschieht, ist die verstorbene Frau meines Onkels dabei. Sie ist eingeladen, geistig dabei zu sein. Sicher hat sich in den letzten drei Jahren an dem Haus etwas verändert – aber bestimmt nicht etwas, was meine Tante ausschließen würde. Ohne die beiden wäre das Haus ein Museum. Ein SEHR interessantes - auch bizarres - Museum. Aber so, mit ihnen, ist es ein Lebensort. Ein Ort voller individueller, spezieller und eigener Bedeutung. Es ist etwas besonderes, daran teilnehmen zu dürfen. Auch dieses Haus lädt ein – aber ganz anders als das auf der Insel. Es lädt ein, an der Bedeutung teilzunehmen, die die Gegenstände für die anderen haben.

1 Kommentar:

  1. "In dem einen Haus wohnt mein Onkel väterlicherseits und in dem anderen meine Tante mütterlicherseits."

    das hier ist mein lieblingssatz, weil dieser umstand hier zum ersten mal so klar wird. und so schön ist...

    ein schöner text mama!

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